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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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vorstellen, würde es doch haargenau dem entsprechen, das ihre Mutter, die Königin, führte. Aber wenn sie über die Monate und Jahre, die noch kommen würden, alles wusste, dann war es so, als hätte sie diese schon gelebt. Da sie so gesehen am Ende ihres vorhersehbaren Lebens angekommen war, erschien es ihr qualvoll und unnötig, nun noch jeden Moment nachholen zu müssen. Und vor dieser Vorstellung grauste es ihr sehr, noch viel mehr als vor dem Jäger.
    Immer häufiger kam es vor, dass die Prinzessin morgens befand, nicht aufstehen zu wollen. »Heute lieber nicht«, sagte sie, als ihr die Hofdamen ihre Harfe und ihre seidenen Kleider brachten. »Nein danke, mir ist heute nicht nach – Harfen und seidenen Kleidern.« So mehrten sich die Tage, an denen die Prinzessin das Bett nicht verließ und von früh bis spät an die Decke starrte und auf die Abende wartete und darauf, dass die Nächte ihr neue Schrecken brächten.
    »Unsere Tochter ist krank!«, verkündete die Königin alsbald, und schnell machten die Neuigkeiten von der geheimnisvollen Krankheit der Prinzessin die Runde. Die Königin und der König schickten ihre Kundschafter aus, um die besten Ärzte des Landes an den Hof zu holen. Innerhalb weniger Tage versammelte sich eine Schar von nicht weniger als hundert Ärzten im Thronsaal. Der Reihe nach sollten sie vorsprechen und die Prinzessin untersuchen. Aber die Mühe hätte man sich nicht machen müssen, denn schon der erste Arzt, ein eher durchschnittlich begabter, konnte erfolgreich die richtige Diagnose stellen.
    »Sie haben eine Depression«, sagte er zur Prinzessin.
    »Ach«, antwortete Miranda.
    »Ich kann Ihnen etwas verschreiben«, sagte der Arzt. »Allgemein würde ich empfehlen, mehr Sport zu machen und über grundsätzliche Veränderungen in Ihrem Leben nachzudenken.«
    »Grundsätzliche Veränderungen?«, fragte die Prinzessin. »Aber wie denn, was denn?«
    »Nun ja«, sprach der Arzt, »wie sieht es in Ihrem Berufsleben aus? Sind Sie zufrieden?«
    Die Prinzessin überlegte. War sie zufrieden mit ihrem Beruf als Prinzessin? Nein, da musste sie nicht lange nachdenken, sie war keinesfalls zufrieden.
    Die folgenden Nächte verzichtete Miranda darauf, die Decke anzustarren, und machte sich Gedanken. War es ihr möglich, nicht Prinzessin zu sein? Konnte sie so ohne weiteres damit aufhören, und wenn ja, wie? Prinzessin sein bedeutete wohl vor allem, gewisse Dinge zu tun. Wenn man sie aber nicht mehrtat, sondern statt ihrer ganz andere Dinge, hätte dies nicht zwangsläufig zur Folge, dass man auch jemand anderes war, jemand anderes wurde? Und wäre sie dann nicht auch fähig, in den Winterwald zu reisen? Es schlug Mitternacht, als die Prinzessin ihre Lage vollständig durchdacht hatte und zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gelangt war: Sie würde nicht länger Prinzessin sein und stattdessen das werden, was sie schon immer hatte sein wollen.
    Am nächsten Tag sprang sie, von neuem Lebensmut beflügelt, aus dem Bett und verkündete den Eltern: »Ich will nicht länger Prinzessin sein. Nun werde ich Ritter.«
    Die Eltern waren wenig angetan von Mirandas ungewöhnlichem Berufswunsch.
    »Wahrscheinlich ist es bloß eine Laune«, sagte die Königin zum König.
    »Soll sie eben«, sagte der König.
    Und so ward es entschieden.
    Als Erstes brauchte Miranda einen neuen Namen und entschied, sich von hier an Miran zu nennen. In den folgenden Monaten lernte Miran zu fechten und zu schießen, zu klettern und zu rennen, zu reiten und zu schwimmen.
    Die anderen Ritter waren zunächst misstrauisch, doch mussten sie alsbald anerkennen, dass Miran eine natürliche Begabung zeigte.
    Bald legte sich Miran auch einen Knappen zu, den wackeren Phillippo, der sie auf ihrer Reise begleiten sollte. Phillippo hatte schon immer Knappe sein wollen und bewarb sich um den Posten, obwohl ihm Punkt drei der Stellenbeschreibung (Reise in den Winterwald) bereits unangenehm aufgefallen war. Erst nachdem Miran ihn eingestellt hatte, gestand er:
    »Ich kann nichts versprechen. Was den Winterwald betrifft, bin ich noch unentschieden. Ihr seid nun einmal weit mutiger als ich.«
    »Verstehe«, sagte Miran, und Verständnis hatte sie in der Tat. Dass nur wenige so mutig waren wie sie selbst, war ihr bekannt.
    Am Tag vor Mirans Auszug in den Winterwald versuchte das Königspaar ein letztes Mal, seiner Tochter das Abenteuer auszureden, doch wie zu erwarten, stießen sie auf taube Ohren.
    »Wenn ich den Prinzen nicht rette, wird es

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