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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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jemand, der lange die Luft hat anhalten müssen.
    »Und jetzt kann ich den Wald betreten«, brachte sie zwischen tiefen Atemzügen hervor.
    »Nein, das geht nicht«, erwiderte die Fledermaus.
    »Aber ich habe den magischen Schlüssel aus den Flammen geholt, genau wie du es gesagt hast.«
    »Stimmt. Aber so wie du bist, kannst du den Wald nicht betreten.«
    »Ja, aber wie – ?«
    Da zog die Fledermaus unter einem ihrer ledrigen Flügel ein gläsernes Fläschchen hervor, das mit einer tiefblauen Flüssigkeit gefüllt war. »Wandeltrank«, sagte sie und schwenkte es durch die Luft. »Ein echtes Wandelwunder.«
    Miran streckte die Hand nach dem Fläschchen aus, die Fledermaus aber tänzelte ein paar Schritte zurück.
    »Das würde ich mir gut überlegen.«
    »Überlegen? Aber anders komme ich doch nicht in den Wald.«
    »Stimmt. Aber wenn du den Trank trinkst, wirst du die schlimmsten Höllenqualen deines Lebens erleiden. Du wirst dich fühlen, als zöge dir jemand die Haut vom Leib, als fiele dein Fleisch von den Knochen, als bliebe nichts von dir übrig bis auf dein Skelett. Dir wird sein, als stülpe dich jemand um, drehe dich von innen nach außen.«
    »Oh«, sagte Miran.
    Einen Moment schwiegen Fledermaus und Prinzessin, dann zuckte Miran die Achseln. »Und was würdest du mir raten? Ich meine, was tätest du an meiner Stelle?«
    Die Fledermaus lachte und zeigte spitze, kleine Zähne. »Ich kann nur sagen, dass ich sehr froh bin, nicht an deiner Stelle zu sein.« Dann runzelte sie die Stirn. Ihre Rolle als Überbringer der weisen Worte war ihr wieder eingefallen. »Nun«, sagte sie. »Ich stelle den Wandeltrank neben das Feuer, und du lässt dir deine Möglichkeiten in Ruhe durch den Kopf gehen. Du hast die Wahl: Höllenqualen oder zurück ins Schloss und wieder Prinzessin sein.«
    »Aber …«, sagte Miran. Die Fledermaus wartete geduldig, doch mehr als ein »Aber« fiel Miran nicht ein.
    »Und nimm dich vor den Krähen in Acht«, sagte die Fledermaus, spreizte die Flügel und stieg flatternd in die Höhe.
    »Halt!«, rief Miran, doch da war die Fledermaus schon winkend verschwunden.
    Miran ließ sich den Wandeltrank durch den Kopf gehen. Zwar stand ihr der Sinn nicht unbedingt nach Höllenqualen, doch hatte die Fledermaus die vertrackte Situation auf den Punkt gebracht: Kein Wandeltrank – kein Wald, kein Wald – kein Prinz. Also nahm Miran das Fläschchen in die Hand und betrachtete eingehend die blauschimmernde Flüssigkeit. Je länger sie starrte, umso deutlicher glaubte sie, eine Bewegung darin erkennen zu können. Zunächst meinte sie, Insekten zu sehen, kleine Tiere, die sich hinter dem Glas tummelten, doch als sie sich das Fläschchen noch dichter vors Gesicht hielt, konnte sie winzige, tintigblaue Buchstaben ausmachen. Sie stützte das Kinn auf die Knie und ließ das Fläschchen in der abgeknickten Hand baumeln. So saß sie bis in den Abend und rang mit sich. Als der Mond aufgegangen war und der Wind die nächtlichen Laute der Wintertiere zu ihr herüberwehte, ging ein Ruck durch Miran. Sie schraubte das Fläschchen auf und kippte den Trank mit einer schwungvollen Bewegung hinunter.
    »Nun bin ich gespannt«, sagte sie und starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Dunkel.
    Bis weit in die Nacht hinein geschah nichts, und Miran lachte abfällig über die übertriebene Warnung der Fledermaus. Da sie vermutete, nun verwandelt worden zu sein, ging sie zur Winterwaldgrenze, musste dort aber feststellen, dass sie diese nach wie vor nicht passieren konnte. Unverrichteter Dinge legte sie sich wieder neben das Feuer, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute in den Himmel. Da begann es, in ihren Fingerkuppen zu kribbeln. Sie legte die Arme flach auf den Boden neben sich, das Kribbeln aber nahm zu, und alsbald spürte Miran, wie es auch in ihren Haaren zu prickeln und zu jucken begann. Von den Haarwurzeln stahl sich das Kribbeln in die Kopfhaut und weiter in den Schädel. »Au«, sagte Miran, als sie hinter den Augen tausend Nadelstiche spürte. Diese schienen in der einen Sekunde unerträglich heiß, in der nächsten unerträglich kalt und kurz darauf beides: heißkalt. Miran rang nach Luft, als das glühend-eisige Stechen in ihren Brustkorb wanderte. Sie konnte weder die Arme noch die Beine bewegen, wie festgepinnt lag sie auf dem Boden. Gerade rechtzeitig gelang es ihr, den Kopf zu drehen, um bittere Galle und dunkles Blut zu spucken. Wahre Höllenqualen, dachte sie gerade, als ihr Körper zerbarst.

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