Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Anstrengung, verschwindet die Welt um ihn herum. Erst als ihn ein Vogel streift, bemerkt Miran die unzähligen Krähen, die sich dem Turm genähert haben. Die krächzenden Rufe der Vögel gehen ihm durch Mark und Bein, und er presst sich dicht an den Stein, wie um darin zu verschwinden. Nun ist es nicht länger still, sondern furchtbar laut. In der Luft liegt ein Schwirren, ein Flattern, ein tosender Lärm. Und auch in Mirans Kopf lärmen die Gedanken: Duck dich! Versteck dich! Lauf! Doch Miran kann sich weder ducken noch laufen noch sich verstecken. Hilflos hängt er in den Ranken und wartet auf die Schnäbel und Krallen. Weil ihm nichts anderes bleibt, als zu warten, lässt er sich treiben, in einem Meer aus eisigen Flocken und dunklen Lauten. Er fürchtet nicht mehr, hofft nicht mehr, denkt nicht mehr, wartet, was nun geschieht.
Und nichts geschieht.
Die Vögel umkreisen weiter den Turm, manche fliegen dichter als andere, aber keines der Tiere greift an. Zögernd verlagert Miran sein Gewicht und zieht sich an der nächsten Ranke ein Stück nach oben. Er presst die Augen zusammen, zieht die Schultern ein. Noch immer bleibt er von Krallen und Schnäbeln verschont.
Als er das Fenster erreicht, stellt er erleichtert fest, dass es nicht verriegelt ist, die Läden stehen weit offen. Mit letzter Kraft zieht er sich über das Sims und fällt ins Innere. Er landet hart mit der Schläfe auf den Dielen, und von einem Augenblick auf den anderen wird das Weiß des Waldes zurückgedrängt, und Schwärze schlägt über seinem Kopf zusammen.
Miran träumt. Er träumt von Eis und stillen Tieren. Er träumt vom Warten. Er träumt, dass er klettert und nicht von der Stelle kommt, und die Krähen krächzen: Kehr um.
Benommen setzt er sich auf. Das Leder der kältestarren Handschuhe scheint mit seiner Haut verwachsen, und als er sie sich von den Händen reißt, fährt der Schmerz durch die Arme, die Schultern und bis in den Brustkorb. Während er keucht, stöhnt und die Arme von sich streckt, wie um den Schmerz auf Abstand zu halten, gewöhnen sich seine Augen an die schummrige Umgebung.
Ihm gegenüber befindet sich ein gläserner Sarg, und in dem Sarg liegt der Prinz. Auf den ersten Blick sieht er aus, wie Miran ihn sich vorgestellt hat: Sein Haar ist golden, seine Lippen sind rosig, die Augen vermutlich veilchenblau. Miran tritt so dicht an den Sarg heran, dass seine Nasenspitze das kühle Glas berührt. Der Sarg scheint mit Wasser gefüllt, und der Prinz darin liegt vollkommen still, scheint nicht einmal zu atmen. Seine Umrisse schwimmen, seine Haut schimmert. Miran reibt sich die Stirn. Und nun? Von einem Sarg hat ihm niemand erzählt, auch nicht die auskunftsfreudige Fledermaus. Er tastet den Sarg zunächst mit den Augen, dann mit den Händen ab. Vergeblich versucht er, den Deckel anzuheben, zaghaft klopft er gegen das Glas. Der Prinz schläft ungerührt weiter.
Prinzessin Miranda war im ganzen Königreich für ihre Ungeduld und ihr aufbrausendes Gemüt bekannt. Miran mag zwar die langwierige Ritterausbildung bestanden und sein altes Selbst abgelegt haben, in jenem Moment aber, da er den geschlossenen Sarg und den schlafenden Prinzen betrachtet, spürt er die altbekannte Ungeduld aufbrodeln. Er klopft erneut, nun weniger zaghaft, dann rüttelt er an dem Deckel, schimpft und schreit und zieht sein Schwert. Die Klinge, aus dem härtesten Eisen und vom geschicktesten Schmied des Landes gefertigt, könnte Stahl, Knochen und Stein spalten. Doch als Miran zuschlägt, Eisen auf Glas trifft und Miran durch die Wucht des Aufpralls einige Schritte zurückstolpert, lässt das Klirren zersplitternden Glases auf sich warten: Es bleibt still. Misstrauisch kriecht Miran zum Sarg zurück. Auf der spiegelglatten Oberfläche kann er keinen Sprung, keinen Kratzer entdecken. Er holt ein weiteres Mal aus, und erneut gleitet die Klinge ab. Aufgebracht reibt er sich die schmerzende Schulter, schleudert das Schwert von sich und läuft zum Fenster. Noch immer heult der Wind um den Turm, und nun heult Miran zurück, ruft nach der Fledermaus, schimpft auf die Fledermaus, schimpft auf die Krähen und den Wind und den Tag, an dem er vom entführten Prinzen erfuhr und sich in den Kopf setzte, ihn zu retten. Und während er schimpft und schreit, verliert seine Stimme an Tiefe. Zu Mirans Entsetzen brechen erste Schluchzer zwischen seinen Lippen hervor. Dabei kann er sich nicht erinnern, je zuvor geweint zu haben. Im Gegenteil, Prinzessin Miranda keifte
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