Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Ein unsichtbares Feuer entzündete sich in ihr, Kopf, Herz und Unterleib standen in Flammen. Das glühende Metall der Rüstung schien mit ihrer Haut verschmolzen. Und auch als sie sich Arm- und Beinkleider vom Leib riss, verschaffte ihr die kühle Nachtluft kaum Linderung. Sie grub die Fingernägel in die juckende Haut. Als könne sie so ihr Innerstes schützen, zog sie die Knie an und rollte sich zusammen, der Wunderwandel aber vollzog sich unaufhaltsam. Er packte sich Herz, Leber, Galle und Nieren, zerstampfte und formte sie neu. Miran war, als müsse sie einen ätzenden Brei ausspeien, doch spuckte sie weiter bloß Galle und Blut. Einen Moment lag sie regungslos, und ihre Zähne schlugen wild aufeinander, und ihre Lippen färbten sich blau, und ihre Haut überzog sich mit einem feuchten, kalten Film. Da gingen drei Stöße durch ihren Körper. Sie wollte laut rufen, auf dass ihr die Fledermaus oder der Knappe oder ein Fremder zu Hilfe eile. Doch als sie den Mund öffnete, um »Hilfe« oder »Halt« oder »Hier« zu rufen, war ihr die Sprache abhandengekommen, und Miran befand sich an einem Ort jenseits der Worte und jenseits der Gedanken, und dort gab es nur noch ein irres Brüllen. Bis in die frühen Morgenstunden brüllte es aus ihr heraus, und als es mit einem Mal totenstill wurde, da wusste sie, dass jemand gestorben sein musste.
II
Als Miran die Augen öffnet, ist er allein. Keine Fledermaus und kein Knappe sind zu sehen, das Feuer ist erloschen. Er setzt sich auf. Die schweren Glieder schmerzen, und er fühlt sich erschöpft wie nie zuvor und unerträglich fremd in der eigenen Haut. Er schaut sich um und entdeckt Teile seiner Rüstung um das Feuer verstreut. Langsam steht er auf. Mit holprigen Schritten macht er sich daran, sie aufzusammeln. Während er um die Glut läuft, strauchelnd und stolpernd, fallend und sich fangend, erschließt er sich den neuen Körper. Erst als er einigermaßen sicher auf den Beinen steht, nähert er sich dem Winterwald.
Dieses Mal geht es leicht. Er biegt die Zweige zur Seite, steigt über Gestrüpp und Geäst, setzt erst den rechten, dann den linken Fuß in den Winterwald. Erstaunt bleibt er stehen. Der Winterwald ist mehr als bloß ein Wald, ist eine eigene Welt, und die ist kalt und bar aller Farben, Gerüche oder Laute. Die Luft ist fremd, der Boden ist fremd, sogar der graue Himmel scheint bleiern und unvertraut und nicht wie der Himmel, unter dem er die letzte Nacht verbracht hat.
Und die Stille.
Miran taucht in die Stille ein wie in ein Meer. Sie ist schwer, drückend und voll. Unsichtbare Hände pressen sich auf seine Ohren. Weil die Luft dickflüssig wie Wasser scheint, rudert er mit den Armen und versucht zu schwimmen. Doch statt aufzusteigen, schwerelos zwischen den Bäumen zu schweben, bleibt er im Schnee stecken. Vor ihm liegen verschwiegenes Weiß, kahle Bäume, ein gefrorener Bach. Miran staunt. Der Himmel ist anders weiß als der Schnee. Der Schnee ist anders weiß als die feinen Atemgespinste, die zwischen seinen Lippen emporsteigen und sich in den krummen, dürren Armen der Baumgerippe verfangen.
Noch nie ist ein Kundschafter hinter die Winterwaldgrenze vorgedrungen. Da es folglich weder Karten noch Wegweiser gibt, ist der Ritter auf sich allein gestellt. Den Legenden nach soll sich der Dornenturm im Herzen des Winterwaldes befinden, und Miran beschließt, vorerst dem Lauf des Baches zu folgen. Entschlossen läuft er los und versinkt gleich beim ersten Schritt in knietiefem Schnee. Auch beim nächsten und übernächsten Schritt findet er keinen Halt, sinkt ein und bleibt stecken. Er hat kaum sechs Schritte getan, als er schwer atmend stehen bleiben muss. Verzweifelt sieht er sich um. Der Schnee liegt überall gleich hoch, doch wenn er keinen Weg findet, schneller voranzukommen, wird er erfrieren, lange bevor er den Dornenturm erreicht hat. Die Bäume werden ihm kaum von Nutzen sein, ihre dünnen Äste könnten ihn nicht halten, und die Rüstung würde ihm das Klettern unmöglich machen. Unschlüssig stapft er zum Bach und prüft mit zunächst nur einem Fuß die Eisschicht. Sie scheint dick genug zu sein, um ihn zu tragen. Vorsichtig setzt er den zweiten Fuß auf den spiegelglatten Untergrund. Kein Sprung zeigt sich, kein Knirschen oder Krachen ertönt.
Vor langer Zeit, als Miran noch nicht Miran war, sondern jemand, an den er sich kaum noch erinnern kann, da besaß er ein Paar weißer Schlittschuhe. Die Winternachmittage drehte er seine Runden auf dem
Weitere Kostenlose Bücher