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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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gefrorenen See vor dem Schloss und führte kleine Kunststücke vor, die niemand bewunderte. Nun trägt Miran keine Schlittschuhe und hat das Schloss vergessen und den See. Nicht aber die alten Kunststücke. Alsbald schlittert er über den Bach, als hätte er sich nie anders fortbewegt. Nichtsdestotrotz macht ihm der Wald das Vorankommen so schwer wie möglich. Er legt ihm nicht nur Steine, sondern auch dicke Äste und Baumstämme in den Weg. Während Miran schlittert und klettert, kriecht ihm die Kälte unter die Rüstung und in die Knochen. Er setzt sich nicht, auch nicht, um von seinem Brot zu essen oder seinem schal schmeckenden Wasser zu trinken.
    Es graut ihm vor der Dunkelheit und noch größerer Kälte, doch sind seine Sorgen unbegründet: Im Winterwald unterscheidet sich die Nacht nicht weiter vom Tag, und als sie schließlich kommt, kommt sie unbemerkt. Der Himmel wird ein wenig grauer, die Luft ein wenig kälter. Da sich weder Mond noch Sonne am wolkenverhangenen Himmel zeigen, bleibt das Licht hier immer gleich schummrig.
    Wachsam späht Miran ins Dickicht und denkt an die Worte der Kinder: Man sieht den Jäger nicht, wenn er nicht gesehen werden will; man hört ihn nicht, wenn er nicht gehört werden will. Aber nicht nur der Jäger ist ein Meister der Tarnung, auch die Tiere des Winterwaldes bleiben vor Mirans Augen verborgen. Vergeblich sucht er nach Rehen, Füchsen, Hasen und Vögeln. Erst nachdem er Stunden gewandert ist, entdeckt er ein Paar dunkler Augen und – nach kurzem Blinzeln – den dazugehörigen Schneehasen. Mit der Zeit gelingt es ihm, zunehmend mehr Getier ausfindig zu machen: in den Ästen, im Gestrüpp und hinter den Baumstämmen.
    Mögen Miran die Lider auch schwer werden, er erlaubt sich zunächst nicht, an Schlaf zu denken. Er würde erfrieren, begraben werden unter unaufhörlich fallendem Schnee. Um sich wach zu halten, zählt er. Er zählt hoch bis zu unendlich großen Zahlen und wieder zurück bis zu schwindend kleinen. Er vertieft sich vollkommen ins Schlittern und Zählen, legt Meile um Meile zurück, schläft kaum, und wenn doch, dann an einen Baum gelehnt, isst kaum, trinkt kaum, und wenn, dann ohne seine Reise zu unterbrechen. Es mögen zwei oder auch drei Tage vergangen sein, als er den Kopf hebt und erschrickt: Der Turm scheint wie aus dem Nichts gewachsen, ragt hoch über die Wipfel der Bäume. Obwohl die Sonne fern ist, wirft der Turm eine dunkle Schattenschneise in den weißen Wald. Erschöpft und mutlos schaut Miran in den Himmel. Als er das letzte Stück des Weges antritt, sind seine Schritte noch langsamer und schwerfälliger als zuvor.
    *
    Der Dornenturm macht seinem Namen alle Ehre: Seine Steine sind über und über mit Dornen bedeckt, die Ranken winden sich in Spiralen bis unters Dach.
    Bevor Miran sich die Dornen genauer besieht, läuft er um den Turm herum – nicht umsonst hat er in seiner Ritterausbildung nicht nur Entschlossenheit und Tapferkeit, sondern auch Sorgfalt erlernt. Statt eines geheimen Eingangs findet er nur weitere Dornen vor. Er legt den Kopf in den Nacken und entdeckt ein Fenster hoch über sich. Von Mensch und Maus verlassen, schaut er in den diesigen Himmel. Dann entledigt er sich seiner schweren Arm- und Beinschienen und beginnt zu klettern.
    Die Dornenranken haben ihre Vor- und Nachteile. Die Ranken selbst sind fest im Gemäuer verankert und breit genug, sodass Miran mühelos Halt finden und sich an ihnen emporziehen kann. Weniger dienlich sind die Dornen: kleine und große, schmale und breite, graue und schwarze. Es sind so viele an der Zahl, dass es Miran unmöglich ist, sich nicht zu stechen. Das Leder seiner Handschuhe bietet kaum Schutz, und wieder und wieder ritzen die Dornen seine Haut. Nicht weniger macht ihm die Kälte zu schaffen. Die Schneeflocken tanzen und wirbeln um seinen Kopf, verfangen sich in seinem Haar und lassen es weiß werden. Bereits auf dem gefrorenen Bach hat ihm der kalte Wind zugesetzt, doch hier in den ungeschützten Höhen durchdringt er ihn ganz. Er lässt seinen Körper verschwinden. Wo Haut war, ist Kälte. Wo sich Nase und Kinn befanden, ist Kälte. Wo sein Herz schlug, ist Kälte.
    Doch Miran klettert weiter, spürt allein noch seine schmerzenden Hände, warmes Blut sickert durch das Leder, erkaltet und gefriert. Er vergisst, dass er je etwas anderes tat, als zu klettern, dass er vor kurzem noch schlitterte, dass er einmal ging und stand und saß und lag. Und weil Miran sich verliert, im Schmerz und in der

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