Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
und fauchte, schimpfte und bettelte, doch weinen sah man sie nie. Der Ritter hingegen schluchzt, und die Schluchzer schütteln ihn, während er weiter nach der Fledermaus ruft. Die Krähen scheinen ihn höhnisch anzustarren, ihr Krächzen wird zum spöttischen Gegacker. Und erst in dem Moment versteht Miran, dass der Turm, eingehüllt in ihr dunkles Federkleid, bis in jeden Winkel des Waldes zu sehen sein muss. Wo auch immer der Jäger sich aufhält, er wird die Tiere längst erspäht, ihre Botschaft längst gedeutet haben. Verzweifelt rutscht Miran an der steinernen Wand hinab, um ungestört weiterschluchzen zu können. Da löst sich etwas aus seiner Rüstung und fällt klirrend zu Boden. Miran tastet die hölzernen Dielen ab, bekommt zunächst Spinnweben, dann einen länglichen Gegenstand zu fassen. Es ist der magische Schlüssel, den er vor einer halben Ewigkeit und noch bevor Miran er selbst wurde, aus den Flammen zog. Misstrauisch beäugt er den Schlüssel, der nicht funkelt, nicht glitzert noch sonst in irgendeiner Form magisch scheint. Was nützt ihm hier oben im Turm ein Schlüssel? Es gibt nicht einmal eine Tür.
Eine Weile schaut er sich in dem kleinen, runden Zimmer um, als ihm ein Gedanke kommt. Schwerfällig schiebt er sich an der Wand hoch und läuft zum Sarg. Zum zweiten Mal und ohne große Hoffnung untersucht er ihn. Und mag seinen Augen zunächst nicht trauen, als er ein goldenes Schloss entdeckt. Kaum zu übersehen, prangt es auf der Rückseite des Sarges, hält Deckel und Unterteil fest zusammen. Doch währt Mirans Freude nur kurz: Auf Anhieb erkennt er, dass der Schlüssel zu grob gearbeitet, der Bart zu groß für die schmale Verschlussvorrichtung des filigranen Schlosses ist.
Aber, denkt sich der Ritter, es ist ja ein magischer Schlüssel. Einer Eingebung folgend, schließt er die Augen, wie um Schlüssel und Schloss unbeobachtet zueinanderfinden zu lassen. Er fühlt, wie der Schlüssel in die Öffnung gleitet, den Riegel im Inneren erfasst und ihn dreht, einmal, zweimal. Erst als Miran ein Klacken hört, öffnet er die Augen.
Der Deckel lässt sich nun leicht anheben, und als Miran in den Sarg lugt, schlägt ihm ein beißender Gestank entgegen. Der Prinz liegt nicht in gewöhnlichem Wasser, sondern in einer fauligen Brühe. Der Gestank, welcher aus ihr aufsteigt, ist nicht nur abstoßender als alles, was Miran je zuvor gerochen hat, er trägt ein finsteres Gemenge drohender Albträume und Ängste, lähmender Empfindungen, Ahnungen von Krankheit, möglichen Gefahren und Verlusten in sich. Miran schluckt schwer, kämpft den Widerwillen nieder und taucht in die Brühe ein. Der Gestank von Moder, Fäulnis und Verwesung flutet seinen Körper, füllt ihn aus bis in die Fingerspitzen, in die Zehen. Mirans Lippen berühren fremde, und in dem schmalen Raum zwischen ihnen, dort wo die Entfernung zwischen zwei Körpern sich so verringert, dass sie gegen nichts strebt, geschieht etwas. Niemand könnte sagen, was es ist. Nicht Miran, der löst und auslöst, nicht Julian, der schläft und aufwacht, nicht die Krähen und nicht der Jäger. Nicht einmal die Gelehrten am Hof des Königs wären in der Lage, das Geschehen zu benennen. Mit all ihren Apparaturen und Vergrößerungsgläsern würden sie doch nicht mehr als Luft und vielleicht ein mattes Flimmern erkennen. Wärme entsteht, dann Hitze, und der beißende Gestank verflüchtigt sich.
Mit einem Ruck fährt der Prinz hoch, die Brühe spritzt in alle Richtungen, Tropfen fliegen, und der Prinz spuckt hustend aus.
*
Der Prinz öffnet die Augen. Der Prinz sieht Miran. Der Prinz sagt: »Oh.« Und: »Ach.«
Betretene Stille breitet sich in dem Zimmer aus. »Ich dachte, eine Prinzessin würde mich wachküssen«, sagt der Prinz nach kurzem Zögern.
Als Miran nicht antwortet, verschränkt der Prinz die Arme. »Ich hatte mir bloß etwas anderes vorgestellt.«
Miran kaut auf der Unterlippe. Er seinerseits hat sich auch etwas anderes vorgestellt. Tagelang ist er durch den Winterwald gelaufen, hat Höllenqualen durchlebt, sich die Hände blutig zerkratzt und zerstochen, um nun einem undankbaren Prinzen gegenüberzustehen, der nach einer Prinzessin verlangt.
»Die Prinzessin möchte ich sehen«, sagt Miran, »die den Dornenturm hochgeklettert wäre. Und außerdem«, setzt er nach, »bin ich eine Prinzessin.«
»Welche?«, fragt der Prinz.
»Miranda. Früher zumindest. Aber das macht auch keinen Unterschied. Jetzt bin ich ein Ritter, und mein Name lautet
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