Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
du weiß alles über den Jäger.«
»Tue ich auch«, behauptet Miran, erkundigt sich aber zur Sicherheit: »Warum?«
»Der Jäger hört nicht auf zu kämpfen, bis er dich besiegt hat.«
»Aber was, wenn ich ihn vorher besiege?«
»Besiegt wäre er erst, wenn du ihn getötet hättest.«
»Dann töte ich ihn eben.«
»Und wie willst du das tun?«
»Indem ich sein Herz dazu bringe, dass es aufhört zu schlagen.«
Der Prinz senkt die Stimme, so als stünden sie nicht allein im Turmzimmer, sondern fänden sich umgeben von neugierigen Lauschern. »Weißt du denn nicht, dass der Jäger kein Herz hat?«, fragt er.
»Kein Herz?«, fragt Miran.
Der Prinz nickt.
Gemeinsam blicken Ritter und Prinz hinunter auf den dunklen Fleck, der schon kein Fleck mehr ist, sondern ein Mann, der die Lichtung betritt, den Kopf hebt, zu ihnen aufschaut.
»Du kannst ihn erschlagen«, sagt Julian, »du kannst ihn erstechen. Du kannst ihn erschießen, du kannst ihn ertränken. Und trotzdem wird er weiter gegen dich kämpfen, so lange, bis er dich besiegt hat.«
Der Jäger verschwindet im Schatten des Turms, stößt weit unter ihnen die unsichtbare Tür auf und erklimmt kurz darauf die ersten Sprossen der unsichtbaren Leiter. Die Sprossen knarren leise, doch mehr noch als die verhaltenen Laute ist es der Geruch, der von der Ankunft des Jägers kündet. Der Geruch von Moder und Fäulnis, der aus der Luke aufsteigt und den kleinen Raum bis in seine spinnwebenverhangenen Winkel füllt.
Miran blickt auf seine blutigen Hände und Julian auf seine zittrigen Beine. Sie müssen schnell handeln, versteht Miran. Aber da sackt der Prinz in sich zusammen, lässt die Schultern hängen und den Kopf. Es ist eine alte, eine vertraute Angst, die von ihm Besitz ergreift. Sie ist wie ein Tier, das in ihm nistet, das hin und wieder schläft, sich manchmal tot stellt, aber niemals verschwindet, ihn nie verlässt, unerwartet und überraschend zu sich kommt, die Flügel weit aufspannt, sich aufplustert, keinen Raum lässt für das Herz, das irre schlägt, für die Lungen, die flattern. Schon als er ein Kind war, konnte er hören und spüren, wie es gleich hinter seinem Brustkorb mit spitzen Zähnen knirschte und scharfe Krallen wetzte. Dann lag er hellwach im prunkvollen Prinzenbett im höchstgelegenen Gemach des höchsten Turmes. Und wenn er endlich einschlief, dann träumte er von dem Jäger, der vor den Schlosstoren stand, zu seinem Fenster aufschaute und wartete. Beinahe jede Nacht schreckte der Prinz aus seinen wirren Träumen auf, rannte zum Fenster und starrte bang in die Finsternis. Bis eines Nachts die Träume nicht länger wirr, sondern wahr waren und der Jäger an sein Bett trat. Er warf sich den Prinzen über die Schulter und der setzte sich nicht zur Wehr: Er schlug nicht, trat nicht, er biss oder kratzte nicht einmal. Ungehindert trug ihn der Jäger die hundert Treppenstufen hinab und an den schlafenden Wachen vorbei. Es war kein Zauber und keine magische Formel, sondern bloß die Angst, die den Prinzen wehr- und sprachlos machte.
Während der Prinz still steht und den nächsten langen Schlaf erwartet, strafft Miran die Schultern. Er ist nicht fürs Warten und Schlafen gemacht, sondern fürs Rennen und Kämpfen. »Klettern können wir nicht«, sagt er. »Also müssen wir springen. Die Schneeschicht wird schon verhindern, dass wir uns das Genick brechen.«
Bevor der Prinz Einwände erheben kann, hievt Miran ihn auf das Sims. »Wenn ich springe, springst du auch«, vergewissert er sich.
Julian nickt, obwohl er nur sieht, wie Mirans Mund sich bewegt, wohl Anweisungen, Bitten und Drohungen formt: Du musst jetzt. Und: Du darfst nicht. Er schaut in das Grauweiß des Himmels und entdeckt eine Wolke. Schön wäre es, denkt er, diese Wolke zu sein. Dann könnte er davonschweben, über fremde Königreiche hinweg, dorthin, wo man nichts weiß von diesem Turm und diesem Wald. Die Augen auf das bauschige Gebilde gerichtet, spürt er nicht länger das Sims unter sich und nicht den Wind auf seinem Gesicht, sondern eine Hand in seiner und wie sein Herz wieder einen Takt findet.
Miran beißt die Zähne zusammen. Obwohl es in seiner rechten Hand pocht und sticht, lässt er den Prinzen nicht los. Im selben Moment, da sich die unsichtbare Luke öffnet, federt er sich ab und reißt den Prinzen mit sich. Sie stürzen hinunter, Miran, die Augen weit aufgerissen, Julian, sie fest verschlossen.
Schade, denkt Miran, vom Ritterleben hatte ich mir noch das ein oder
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