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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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andere mehr erwartet. Jetzt habe ich nicht einmal ein ganzes Abenteuer bestanden, sondern bloß ein halbes.
    Schade, denkt Julian, in wenigen Sekunden werde ich zerschmettert am Boden liegen, mit gesplitterten Knochen im Schnee zugrunde gehen.
    Und unter des Prinzen Gedanken an gebrochene Knochen kreisen weitere Gedanken, so regelmäßig und lange schon, dass der Prinz ihrer nicht einmal mehr gewahr ist, so wenig, wie er das Blut durch seine Adern rauschen hört. Er wird mich finden, denkt Julian, er wird. Der Jäger hat ihn schon einmal aufgespürt, im höchsten Zimmer, in der sichersten Festung, und so wie er ihn dort gefunden hat, wird er ihn überall finden. Folglich mag es nicht das Schlechteste sein, dass Julian in wenigen Augenblicken aufhören wird zu atmen. So wird er zumindest auch aufhören können, sich zu fürchten.
    Während der eine sich im Bedauern verstrickt und der andere sich in der Angst, unterbricht ein Dritter ihren Sturz. Ein gutes Stück, bevor sie auf dem frostigen Winterwaldboden aufschlügen, werden sie abgefangen und davongetragen.
    Der Prinz schreit, reißt die Augen auf und schließt sie sogleich wieder. Kann es sein, ist es möglich, dass sie auf dem Rücken einer menschengroßen Fleder-
    »Was tust du denn hier?«, schreit Miran an Julians Ohr vorbei.
    »Ich war in der Gegend«, antwortet die Fledermaus und winkt ab.
    Was es mit der Fledermaus auf sich hat, will der Prinz wissen, eine Erklärung verlangt er, bekommt aber keine. Sein Herz rast, es klopft und hämmert, und der Prinz windet sich.
    »Wenn er nicht aufhört zu zappeln«, spricht streng die Fledermaus, »wird er fallen.«
    Und nach kurzer Zeit beruhigt sich der Prinz, nicht weil ihn die Worte der Fledermaus zur Vernunft gebracht haben, sondern weil ihn die Erschöpfung überwältigt. Er lehnt sich zurück, schließt die Augen und verliert sich in dem Gefühl, davongetragen zu werden, unerreichbar für den Jäger.
    Man ist guter Dinge. Nun, da sie ungehindert durch die Lüfte reisen, gibt es nichts mehr zu fürchten, bald werden sie die Winterwaldgrenze erreicht haben. Und dann? Über das Danach hat weder der Prinz noch der Ritter nachgedacht, dafür sind sie viel zu sehr mit dem Mittendrin beschäftigt gewesen.
    »Ich könnte ja«, schlägt der Prinz vor, »mit auf dein Schloss kommen. Deine Eltern haben zwar eine Prinzessin verloren, hätten so aber einen Prinzen gewonnen.«
    »Ich weiß nicht. Meine Eltern halten nicht allzu viel von meinem Lebenswandel. Wenn ich auch noch einen Prinzen mit nach Hause bringe …«
    »Freunde, viel länger kann ich euch nicht tragen. Seht ihr die schneeverschneite Lichtung dort unten?«, unterbricht in dem Moment die Fledermaus.
    »Aber …« Miran blickt in den Wald tief unter ihnen. »Kannst du uns nicht noch bis zur Grenze bringen?«
    »Mir reißen schon die Flügel. Siehst du?« Die Fledermaus reckt einen Flügel in die Höhe. »Wenn ich noch weiter fliege, dann stürzen wir alle drei in den Tod.«
    »Dann lieber schneeverschneite Lichtung«, sagt der Prinz leise.
    Die Fledermaus gleitet im Tiefflug zwischen den Bäumen hindurch und setzt Miran und den Prinzen auf der Lichtung ab, wo sie sogleich im Schnee versinken.
    »Wie weit ist es noch bis zur Grenze?«, fragt Miran die Fledermaus und betrachtet besorgt den Prinzen. Der ist so weiß wie der Schnee und kann sich kaum aufrecht halten.
    »Ungefähr zwei Tagesmärsche«, antwortet die Fledermaus.
    Der Prinz stöhnt.
    »Das ist bei weitem nicht euer größtes Problem.«
    »Nein?«
    »Nein. Aber das werdet ihr noch schnell genug erfahren. Ich will euch nicht weiter beunruhigen. Gut möglich, dass sie euch gar nicht finden.«
    »Sie?«, rufen Ritter und Prinz in einem.
    Die Fledermaus aber winkt bereits überschwänglich. »Bis bald«, ruft sie. »Wir sehen uns an Bord.«
    »An Bord?«, schreit Miran ihr hinterher, doch die Fledermaus steigt unbeeindruckt weiter auf, wird kleiner und kleiner, bis sie ganz verschwunden ist.
    Mit einem Mal scheint es Miran sehr unwahrscheinlich, dass sie den Wald jemals verlassen werden. Mehr noch: Er kann sich nicht einmal länger vorstellen, dass es eine Welt dort draußen gibt. Mit Menschen und Harfen, mit Straßen und Häusern und Festen und Wiesen und Farben, unendlich vielen Farben, dem Grün der Gräser und dem Blau des Meeres. Im Winterwald, denkt er, gibt es bloß zwei Farben, Schwarz und Weiß. Hier allerdings irrt Miran. Denn wie ihm jeder Winterwaldkundige sagen könnte, gibt es auch noch das

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