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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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sammeln sich in seinem Mund, drängen nach vorne, und er beginnt zu sprechen, Worte, die er in seinem Kopf getragen haben muss, die ihm jedoch so wenig bekannt sind wie dem Prinzen.
    »Du glaubst, kein Turm sei hoch genug, kein Schiff, kein Pferd, keine fliegende Fledermaus könnte dich weit genug fortbringen. Und dass der Jäger dich selbst auf der einsamsten Insel und in der größten Stadt findet, gleich, ob du schwimmst oder rennst, fliegst oder reitest. Dass es keinen Winkel gibt und keine Ecke, in der du dich verstecken kannst. Und vielleicht hast du mit alldem recht, weißt aber nichts über mich, darüber, wer ich sein, wie weit ich gehen und gegen wen ich kämpfen werde. Ich reise durch tausend Königreiche und bis zum Rand der Welt und noch viel weiter. Der Jäger mag kein Herz haben, doch solange meines noch schlägt, werde auch ich dich finden. Wo immer er dich hinbringt und versteckt, ich werde kommen, ich hole dich zurück.«
    Der Prinz nickt. Zwar fällt ihm kein guter Grund ein, aus dem Miran für ihn durch tausend Königreiche laufen und es mit einem Gegner ohne Herz aufnehmen sollte, doch lässt der Ritter keinen Zweifel zu. Die Entschlossenheit liegt nicht bloß in seiner Stimme, sondern auch in seinen Augen, in dem Meerblau der Iriden oder im Nachtschwarz der Pupillen.
    Wäre der Prinz nicht kurzsichtig und sähe er genauer hin, dann würde er vielleicht erkennen und bemerken, dass die Entschlossenheit weniger Entschlossenheit als vielmehr die reine Angst ist. Eine Angst, zu versagen und zu verlieren, die so reißend und reizend ist, dass sie Miran antreibt, ihn den Schmerz und die Kälte und die Müdigkeit vergessen lässt.
    *
    Weil Miran müde ist und die Laute leise sind, glaubt er lange, sie sich einzubilden. Wenn er stehen bleibt und in den Wald lauscht, verflüchtigen sie sich wie scheue Tiere, nur um kurz darauf zurückzukehren. Um den Prinzen, der neben ihm über das Glatteis schlurft, nicht zu beunruhigen, behält Miran die Laute für sich, trägt sie wie ein Geheimnis im Kopf und in den Ohren. Bis der Prinz jäh stehen bleibt.
    »Hast du das gehört?«, fragt er.
    »Das ist bloß das Knirschen des Schnees«, behauptet Miran und läuft weiter.
    Nach wenigen Schritten bleibt der Prinz erneut stehen.
    »Da ist es wieder.«
    »Das war bloß der Wind in den Ästen«, sagt Miran.
    »Das war kein Wind, das war kein Schnee.«
    »Unterwegs ist mir ein Reh begegnet«, sagt Miran.
    Sie horchen angestrengt in den Wald und gäben viel darum, sich ein Reh herbeilauschen zu können, doch ist es nicht der Klang vereinzelter Hufe, sondern das sachte Tapsen unzähliger Pfoten, das sie vernehmen.
    »Lass uns weitergehen«, sagt Miran und ist versucht, den Prinzen zu mehr Schnelligkeit zu ermahnen, ihn vielleicht durch einen kleinen Schubs anzutreiben, doch hält sich Julian noch immer mehr schlecht als recht auf den Beinen. Während der Prinz bedächtig einen Fuß vor den anderen setzt, fächern sich die Laute hinter ihnen auf, werden zu diesem und jenen: einem Hecheln, einem Schneeknirschen, einem Rascheln, einem rauen Atem.
    Obwohl er weiß, dass der Waldrand noch Stunden entfernt ist, hört er sich selbst zum Prinzen sagen: »Es kann nicht mehr weit sein.«
    Der Prinz nickt. Und hält inne. Und bleibt stehen.
    Miran wartet. Er hofft, ein weiteres Mal auf die geflüsterten Worte zurückgreifen zu können, doch dieses Mal bleibt es still in ihm. Und der Moment, auf den er gewartet, den er gefürchtet hat, er umfasst sie und schließt sie ein und hält sie fest.
    Lautlos wie ein Gespenst, ein nächtlicher Spuk, taucht der erste Winterwolf zwischen den Bäumen auf. Das Tier steht stumm, heult nicht und knurrt nicht. Dann kommt Bewegung in die Schatten. Gelbe Augenpaare und spitze Zähne blitzen auf. Miran fährt herum. Sie sind bereits umzingelt, die Tiere haben sie von allen Seiten umkreist.
    Miran zieht sein Schwert, und im selben Moment weichen zwei der größeren Tiere winselnd zur Seite. Doch es ist nicht Miran, den sie fürchten, und auch nicht seine Klinge. Der Jäger tritt zwischen den Bäumen hervor.
    Ein dumpfes Dröhnen geht von ihm aus, und Miran sieht, wie die Luft um den schweren Körper pulsiert und Wellen schlägt. Der Jäger besitzt kein Herz, weil er selbst eines ist, das Herz des Winterwaldes.
    Zwischen ihnen liegt der Schnee und etwa zehn Fuß kalte Luft. Miran blinzelt. Obwohl sie nah beieinanderstehen, finden seine Augen keinen Halt. Er kann den Jäger bloß ungefähr erkennen, nimmt

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