Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Grau der Wölfe.
*
Von der Lichtung ist es noch ein gutes Stück bis zum Bach, und sie kommen nur mühsam voran. Miran läuft vorweg, für den Fall, dass jemand bekämpft werden muss, doch bis auf die üblichen Schneehasen begegnet ihnen niemand. Mit gespitzten Ohren lauert Miran auf den Flügelschlag der Krähen, aber das gefürchtete Geräusch bleibt aus. Nach einer Weile bemerkt der Ritter, dass ihm nicht nur der schwere Atem des Prinzen folgt, sondern auch ein beharrliches Klackern. Als er sich umdreht, sieht er, dass es die Prinzenzähne sind, die aufeinanderschlagen. Julian schleift und schleppt sich, seine Lippen haben sich blau gefärbt. Niemals, denkt Miran, wird er zwei Tagesmärsche überstehen. »Bald erreichen wir den Bach. Dann wird es viel leichter«, behauptet Miran.
Der Prinz hebt die Schultern und lässt sie fallen. Seufzt. Stöhnt. Klappert mit den Zähnen.
Mühelos und schnell schlittert der Ritter über den Bach. »So geht es«, erklärt er dem Prinzen bereits zum wiederholten Mal.
Der Prinz zieht die Füße über das Eis, gerät aus dem Gleichgewicht und ins Rudern, bevor er vollends den Halt verliert.
Schwerfällig kommt er wieder auf die Beine. »Es ist sehr glatt«, bemerkt er und fällt um.
Miran schüttelt den Kopf. Julian kann nicht kämpfen, nicht rennen, nicht schlittern – was können Prinzen überhaupt?, fragt er sich düster.
»Kannst du wenigstens Harfe spielen?«, fragt er den Prinzen, und der nickt eifrig. Ja, Harfe spielen kann er.
»Das hilft uns aber gar nichts«, bemerkt Miran und räuspert sich. »Nun fällt mir bloß noch eins ein«, setzt er an und wappnet sich für die unvermeidliche Auseinandersetzung. (Du musst – ich will nicht; du musst – ich kann nicht; du musst aber, und so weiter.)
»Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich muss dich tragen.«
Der Prinz zuckt die Achseln. »Gut, ich bin auch nicht besonders schwer«, räumt er ein.
Prinz Julian hat recht, und anfangs spürt Miran sein Gewicht kaum. Als sei er nicht beladen, sondern beflügelt, schlittert er den Bach entlang. So kann ich ewig laufen, denkt Miran, doch wie so oft, ist » ewig « schneller vorbei als gedacht, und schon nach einem halben Tagesmarsch schmerzen dem Ritter Schultern, Nacken und Rücken. Neben dem Prinzengewicht und der Kälte ist es vor allem die Stille, die er kaum noch ertragen kann.
»Erzähl mir etwas«, fordert er den Prinzen auf, und nachdem der Prinz ihm versichert hat, dass es nichts zu erzählen gäbe, ihm nichts weiter einfiele, beginnt er zu erzählen. Wie er sich als Kind grauste (vor dem Jäger). Was er nachts träumte (von dem Jäger). Wie es war, als einziger Prinz im Schloss aufzuwachsen (langweilig).
»Du solltest einmal Prinzessin sein«, höhnt Miran. »Das ist langweilig.«
Die Nacht bricht an, ohne dass sie es bemerken. Miran versucht, nicht in den eigenen Körper hineinzufühlen, das Ziehen in den Schultern, das Stechen im Nacken, die zerschundenen Hände als bloße Unannehmlichkeiten abzutun. Doch nachdem er den Prinzen noch einige Stunden zwischen den kahlen Bäumen hindurch getragen hat, tritt das Unvermeidliche ein: Miran muss ihn absetzen. Er schlägt ihm vor, es noch einmal mit Schlittern zu versuchen, der Prinz aber schüttelt den Kopf. Er schlägt ihm vor, neben dem Bach herzulaufen, der Prinz aber schüttelt den Kopf. Er schlägt ihm vor, eine kurze Pause zu machen und dann weiterzulaufen, der Prinz aber schüttelt den Kopf.
Hilflos breitet Miran die Arme aus. »Wenn wir erst den Winterwald verlassen haben, wird es viel leichter sein«, sagt er.
Erneut schüttelt der Prinz den Kopf. Mehr zu sich selbst als zu Miran sagt er: »Er findet mich ohnehin. Er lässt mich nicht gehen.« Ohne auf Mirans Antwort zu warten, setzt er sich neben den Bach in den Schnee. In seinem Gesicht klappt etwas zu, und Miran versteht, dass er auf jeden weiteren Vorschlag, jedes beschwichtigende Wort verzichten kann. Entmutigt tritt er gegen einen Baumstamm. Er kann für den Prinzen rennen, klettern und schlittern, Worte aber liegen ihm so wenig wie das Harfenspiel. Die richtigen findet er so gut wie nie, und gelingt es ihm doch einmal, dann setzt er sie falsch zusammen. Um den Prinz aus dem Schnee und auf die Beine zu bekommen, muss er etwas Besonderes, etwas Tiefsinniges und Überzeugendes sagen. Alles, was ihm einfällt, ist: Steh auf. Und: Bitte.
Schweigend kaut er auf seiner Unterlippe, als er einen sanften Druck spürt. Ein Wort, ein zweites und ein drittes
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