Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
wartet. Auf etwas Gutes, etwas Schlechtes, eine Überraschung, ein Ereignis.
Wenig später läuft er durch einsame Straßen und über einen verlassenen Platz. Wachsam besieht er sich seine Umgebung, die Seitenstraßen und Ecken, die heruntergekommene Fassade des Gasthauses. In den letzten Jahren hat Perthun sich entleert, sich entvölkert. Die Einwohnerzahl ist in den knapp dreistelligen Bereich gesunken.
Durch die Fenster des Gasthauses sieht er Licht und die Schatten der Frauen, die auf und ab gehen. Im Inneren sind etwa dreißig Menschen versammelt, fast ausschließlich Frauen, ein paar Kinder. Als er das Haus betritt, scheinen sie seinetwegen etwas zu unterbrechen, auch wenn er nicht sicher ist, was. Gesprochen haben sie nicht.
Der Gestrandete liegt auf einem Tisch vor dem Feuer. Die Frauen haben ihn in Decken gewickelt, obwohl weder Wärme noch Kälte an seinen Körper zu tasten scheint. So wenig wie seine blassen Lippen sich am Strand blau gefärbt haben, werden sie jetzt rot. Sein Brustkorb hebt und senkt sich kaum, seine Lider flattern nicht, seine Hände liegen still.
»Ihr habt ihn am Strand gefunden?«, fragt Yann.
Die Frauen nicken.
Yann tritt an den Tisch heran und schaut auf den Fremden hinab. Er schluckt. Als hätte ihm jemand einen Schlag in die Kniekehlen verpasst, sackt er ein Stück zusammen. Jemand sagt etwas, aber Yann versteht nicht, hört bloß Gemurmel. Er schüttelt sich leicht, versucht, die Fetzen eines Traums, die er den ganzen Weg bis ins Gasthaus getragen hat, abzustreifen.
»Wir sind uns nicht sicher«, wiederholt Anna.
»Sicher?«
»Wo er herkommt.«
Die Frauen verschränken die Arme, wiegen die Köpfe und warten. Vielleicht darauf, dass Yann einen Test durchführt, Milans Kopf abtastet, einen Finger an seine Halsschlagader legt, ihm einmal gegen die Stirn klopft, um mit Bestimmtheit zu sagen: »Nun, dieser hier, der kommt weiter aus dem Norden.« Oder: »Aus dem Norden kommt er sicher nicht.«
Yann verlagert das Gewicht von einem Bein aufs andere, seine Augen wandern zur Tür. Jetzt müsste er kommen. Der eine, der immer wusste, was zu tun war. Er müsste die Tür zum Gasthaus aufstoßen, Tang im Haar, die Haut fahl und feucht; und während ihm silberne Fischchen aus den Stiefeln sprängen und er sich von den Frauen umringen und bestaunen ließe, würde er verkünden, dass er vom Grund des Meeres viele Meilen bis zur Oberfläche emporgeschwommen sei, dass er tausend Kämpfe bestritten und tausend Hindernisse überwunden habe, um zu seiner Familie zurückzukehren. Dann würden sie ihm um den Hals fallen, die Frau, der Sohn. Aber halt, Yann ist zu alt, um jemandem um den Hals zu fallen. Helen würde dem Vater also um den Hals fallen, die Last der Welt wäre von ihren Schultern genommen, sie würde gerade gehen und freier atmen. Alles wäre gut. Alle wären erleichtert.
Yann schaut zur Tür. Er glaubt nicht an Schicksal und Bestimmung, wohl aber daran, dass jemand zurückkommt, in dem Moment, in dem man sich eingesteht, dass er auch fortbleiben kann.
Eine der Frauen räuspert sich, eine andere stemmt abwartend die Hände in die Hüften, und Yann hört sich sagen: »Der kommt weiter aus dem Norden.«
Die Frauen nicken. Manchmal findet Yann die Stimme des Vaters, und der ernste Ton, die Bestimmtheit der Worte überzeugt hier jede. Fast jede.
»Wie hat er das überlebt? Er hätte erfrieren müssen oder ertrinken«, wendet Anna ein.
»Wir wissen doch nicht einmal, wo er über Bord gegangen ist«, antwortet Yann, noch immer mit der geborgten Stimme. »Vielleicht kommen die aus dem Norden weiter runter. Vielleicht sind ihnen dort oben die Fische ausgegangen.«
Anna lacht, ein verlerntes, raues Lachen. »Dann sind sie bei uns richtig«, sagt sie und macht einen Schritt auf den Gestrandeten zu. Als sie sich über ihn beugt, hebt Yann die Hand. Er presst die Lippen fest zusammen, um nicht zu rufen: »Geht alle einen Schritt zurück.« Erst als es ihm wieder sicher scheint, den Mund zu öffnen, spricht er: »Wir müssen warten, bis er aufwacht, dann können wir Fragen stellen.«
»Hier kann er aber nicht bleiben«, sagt Nora und verschränkt die Arme. In ihrem Gasthaus entscheidet sie, wer bleiben darf und wer nicht.
Yann nickt schnell. Er will den Gestrandeten ohnehin aus dem wachsamen Kreis der Frauen und an einen stilleren Ort bringen.
»Am besten, wir bringen ihn zu mir«, schlägt er vor.
Nachdem die Frauen einen Moment beratschlagt haben, stimmen sie zu. Das Haus auf den
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