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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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körperlich und charakterlich von einer Schönheit, die von der Umgebung bewundert wird.
    Als der Prinzessin nach der Heirat mit dem Prinzen von Clèves, den sie nicht liebt, der sie aber auch nicht stört, zu dem sie also höflich ist, der Herzog von Nemours gegenübertritt, glaubt sie ihn vom ersten Moment an zu lieben; dieser ist mit außerordentlichen Eigenschaften ausgestattet. Er gilt als Ehekandidat für Königin Elisabeth I. von England. Gesichtszüge und Körperhaltung, die von allen als angenehm empfunden werden, gewinnen an Assoziationskraft durch das Gerücht, er sei bei Frauen erfolgreich. Bei seinem ersten Auftritt im Roman klettert er über die Sitze, die ihm den Weg zur Tanzfläche versperren, das heißt, er ist ungestüm.
    »Frau von Clèves beendete den Tanz, und während sie noch mit den Augen nach einem anderen Partner suchte, rief ihr der König zu, den Neuangekommenen zu nehmen.«
    Der Tanz der beiden Schönen erregt die Bewunderung der Hofgesellschaft.
Surprise (Überraschung) und étonnement (Erstaunen) ...
    Die äußeren Zeichen der passion sind é tonnement und surprise . Nach Descartes bewirkt das étonnement als äußerste Folge der surprise , daß »der ganze Körper zu einer Statue erstarrt«. Das »Erstaunen«, so Descartes, sei das Zeichen einer unheilbaren passion , ein Übermaß an Bewunderung, eine unwiderstehliche Betroffenheit. (Descartes , Traité des passions de l’âme, art. 73 )
    Der Roman der Madame de La Fayette beschreibt keine psychologischen Vorgänge. Er beschreibt die Masken der Psychologie. Die unwiderstehliche Betroffenheit, um die es in dem Roman geht, erlebt in bezug auf die Schönheit der Mademoiselle de Chartres, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennt, später aber konsequent heiraten wird, der Prinz von Clèves. Er kann sein Staunen nicht verbergen. Das Erlebnis der ersten Begegnung ändert sein ganzes Leben und prägt ihn bis zu seinem Tod. Diese Überraschung und das étonnement stellen sich aber für den Herzog von Nemours nicht anders dar.
    »Als Monsieur de Nemours vor ihr stand und sie ihm ihre Verbeugung machte, war er von ihrer Schönheit so überrascht , daß er sein Erstaunen nicht verhehlen konnte.«
    Surprise ist in dem Roman das Schlüsselwort für die Erfahrung eines plötzlichen Überfalls unberechenbarer, irrationaler und schicksalhafter Kräfte auf die rationale Lebensordnung. Dessen Steigerung, das étonnement , setzt die Vernunft außer Kraft. Die betroffene Person gehört momentan nicht sich selbst. Dies sind Kartographierungen wie auf einer Landkarte der Gefühle. Sie lassen sich mit Erfahrungen des 21. Jahrhunderts genauso vergleichen wie mit Vorgängen in den Romanen des 17. Jahrhunderts. 17
Coup de foudre ...
    »Die leidenschaftliche Liebe trifft wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sie gilt einem Unbekannten. [...] die Liebe erscheint als eine explosive Kraft, die die Kontinuität unterbricht.«
    In anderen Romanen und in der Lebenspraxis des 17. Jahrhunderts wird angenommen, daß sich die zärtliche Kraft wie beim Lernen, ähnlich dem Wachsen von Pflanzen in einem Garten, allmählich entwickelt. Zwei Menschen lernen einander näher kennen und dadurch lieben. Dem ist die Vorstellung von »Liebe als Passion« entgegengesetzt. Der Liebeseindruck zerschlägt gewissermaßen die Wahrnehmung und wirft eine zweite Welt in die bestehende hinein. Die Leidenschaft verhält sich als Gründer. Die Prinzessin von Clèves und den Monsieur de Nemours hat die Liebe gepackt, ehe sie überhaupt ihre Namen kennen oder sonst eine Kenntnis voneinander besitzen. Dies ist der Zustand, vor dem die Mutter die Prinzessin von Clèves warnen wollte und den die Autorin Madame de La Fayette für einen Krankheitszustand hält, der sich aber durch Vernunft nicht attackieren läßt.
Trouble (Unruhe) ...
    Die in gewissem Sinne irre Leidenschaft, die auf das erste Staunen folgt, bestimmt von jetzt an die beiden Liebenden. Eine »Unruh«, ähnlich derjenigen, die eine Uhr antreibt, bestimmt ihre Handlungen und Intensitäten, während zumindest die Prinzessin noch dagegen anzukämpfen glaubt. Die hohe Zivilisationsstufe verhindert, daß die beiden übereinander herfallen. Vielmehr geschieht nichts, was sich nicht mit der vertu , auch der Loyalität der Prinzessin zu ihrem Mann, vereinbaren ließe. Der Herzog von Nemours ergreift die Gelegenheit, sich ein Porträt der Prinzessin anzueignen, sie wiederum konzentriert sich auf die Farben der Turnierschärpe des geliebten

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