Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
ausgeglichenen, in Fragen der Liebespolitik erfahrenen Charakter. Könnte man Liebe auf Freundschaft gründen, wären der Prinz von Clèves und seine Frau ein ideales Paar, deren Beziehung sich vielleicht am Ende eines langen Lebens (beide müßten nicht früh sterben), dadurch, daß sie sich erst allmählich kennengelernt hätten, in Richtung einer zärtlichen Zuwendung, ja auch sexuell befriedigend, entwickelt hätte. Bei großer Achtung vor der Gewalt der Liebesleidenschaft setzt Madame de La Fayette auf eine zivilisiertere Beziehung unter Menschen, als es die passion vorsieht.
»Anti-Descartes ...«
Nach Descartes gilt allein der Primat der Vernunft. Sozusagen der Polizeieinsatz gegen alle Leidenschaften. Das entspricht nicht der Position der Madame de La Fayette. Auch sie sieht die Erfolgsaussichten einer »Bindung aus Plötzlichkeit«, einer Gewaltherrschaft der passion über alle übrigen Sinne, skeptisch oder pessimistisch. Aber ihr liegt daran, das Beziehungsnetz, das ja das der Lebendigkeit ist, intakt zu halten und durch kein Verbot zu zerstören. Nur so, an den lebendigen Kräften, mögen sie auch zerstörerisch sein, meint sie, kann man letzten Endes die Auswege und Heilmittel erkunden.
Die Krankheit, die zum Tode führt (zum Tod der Person oder zum Tod der Liebe), so Madame de La Fayette, liegt nämlich in der EIGENLIEBE begründet und nicht bloß in der LEIDENSCHAFT . Diese Eigenliebe gehört zu dem Besten, was der homo novus als Ausrüstung mitbringt. Das Eigentum am eigenen Leben ist ununterscheidbar Quelle von Glück und Unglück.
Eine »Heldin der Höflichkeit« ...
Die Prinzessin hat die Maske der Liebeskonvention gelüftet und gesehen, was sich dahinter verbirgt: Grausamkeit. Sie hat erkannt: auch sie, die Heldin der Höflichkeit, war in Wahrheit grausam. Sie fürchtet ihren unerbittlichen Verstand, der sie nicht hinderte, ihren Mann zu töten, ebenso wie die passion , die ihr den Verstand zuschanden machte.
Das Ende des Romans ...
Die Prinzessin ist jetzt Witwe. Da ihr Verhältnis zum Herzog von Nemours die Tugend äußerlich nie verletzt hat, stünde einer Verbindung mit ihm nichts im Wege. Ja, die Hofgesellschaft fordert eine solche Verbindung, da sie die Harmonie zwischen diesen beiden Menschen als die eines »natürlichen Paares« registriert. Die Prinzessin aber verweigert sich. Sie geht ins Kloster. Für etwas so Kostbares wie die unmittelbar empfundene zärtliche Kraft ist der Zölibat die angemessene Form, so Madame de La Fayette, die Autorin.
Einmaligkeit als Anspruch ...
Es gibt für den Liebes-Kanon der französischen Klassik, so Niklas Luhmann, nur zwei Reaktionen: Ich erhalte das Außerordentliche, oder ich reagiere negativ. Einmaligkeit ist der Anspruch. Der Verzicht der Prinzessin hat nicht etwa zu tun mit der Treue über den Tod des Ehemannes hinaus, die wäre ein phantôme du devoir. Mit Zustimmung der Hofgesellschaft, die den Anblick des Schönen liebt, und mit vermutlicher Billigung der verstorbenen Mutter WÄRE ES MÖGLICH , eine solche nur vorsätzliche, einzig in Körper und Seele fundierte Treue zu brechen. Es kommt jedoch hinzu, daß die Prinzessin Zeugin geworden ist, wie der Herzog von Nemours sich vor Dritten ihrer Liebe, die er durch ein Zeichen erraten hatte, gerühmt hat. Daß auch sie nur einen Mann wie jeden anderen geliebt hätte, einen Prahler, welcher der Eitelkeit nicht widerstehen konnte, habe sie enttäuscht. SOWEIT DIE OBJEKTIVE DARSTELLUNG DER MADAME DE LA FAYETTE . Die Prinzessin legt sich das Geschehen subjektiv etwas anders zurecht: Würde ich mich mit dem Herzog verbinden, so geschähe mir aufgrund seiner Natur nach einigen Jahren das, was meinem Mann widerfuhr. Da ich ihn liebe, würde ich daran sterben. Ich leiste Verzicht, um das Wichtigste, das es in meinem Leben gibt, zu bewahren: meine Eigenliebe. Sie richtet sich auf Einmaligkeit und außerdem darauf, daß ich überlebe.
Nach ihrem Verzicht lebte die Prinzessin nicht mehr lange ...
»Das Leben Frau von Clèves’ aber sah nicht so aus, als würde sie je zurückkehren. Sie verbrachte einen Teil des Jahres im Kloster, den anderen bei sich zu Hause; doch hätte die strengste Ordensregel ihr auch dort keine größere Zurückgezogenheit und keine frömmeren Beschäftigungen vorschreiben können; und so war ihr Leben, obschon es nur kurz währte , ein Beispiel unübertroffener Tugend.«
Es geht um Enttäuschung, nicht um Gefahrenabwehr. Sie will nicht eine Frau wie alle anderen, er soll nicht
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