Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
verurteilend verwendet, VERUNREINIGUNG ), auch nicht die Beteiligung des Eigeninteresses (wie bei der Prinzessin, deren Mutter, Monsieur de Nemours), sondern die KOMPLEMENTÄRE BEWUSSTHEIT beiderseitiger Beziehungen: Keiner ist mehr naiv, beide betrachten sich mit den Augen des anderen. Dies sei eine heute ubiquitär verbreitete Eigenschaft, meint Luhmann, sie sei übrigens für die Erhaltung der Liebe unentbehrlich. Sie sei aber für die Herstellung »reiner Liebe«, also purer Zärtlichkeit, besonders unbrauchbar. Der Tausendfüßler Liebe beginne mit jedem der Teilnehmer, an verschiedener Stelle anfangend, seine Glieder zu zählen, sobald das Ziel amour pur heiße. Notwendig sei es, chimärische Formen der zärtlichen Kraft anzuerkennen. Eine Dauerbeziehung könne nicht auf ein »fluktuierendes, unbeherrschbar Aufquellendes und ebenso unbeherrschbar wieder versiegendes Gefühl« gegründet werden. Passion sei eine nicht zu verantwortende, zufällige Verfassung, deren Eintreten ebensowenig beherrscht werden könne wie ihr Verlöschen. Es bestehe Widerspruch zwischen ZWANGSLÄUFIGKEIT und FREIHEIT , IMPULSIVITÄT und DAUER .
»Liebe ist nicht nur qua Ideal, sondern auch qua Institution eine Überforderung der Gesellschaft.«
Es sei insofern einfacher, nur noch in Filmen und Romanen passion auszuüben als in der Realität.
Von der Leidenschaft und der durch sie provozierten Überforderung der psychischen Systeme behauptet Luhmann:
»Nicht jeder hat die Fähigkeit, hat Lust, Zeit und Gelegenheit dazu, und kaum jemand hält es durch.«
Deshalb, fährt Luhmann fort, braucht man die Gardinen der Privatheit für die Liebe. Sie erlauben zunächst, zu verbergen, daß und wie man sich liebt (man muß improvisieren), und später, daß man sich nicht liebt.
Man liebt die Liebe und danach einen Menschen, den man lieben kann ...
Man kann bereits lieben, ohne einen Partner zu haben, oder man hat nur einen solchen, der nicht wiederliebt. »Was geht’s dich an, wenn ich dich liebe.« Der Partner von heute klettert nicht über die Sitze zur Tanzfläche und wird nicht durch einen König für mich zum Tänzer bestimmt. Vielmehr muß ich mich als moderner Mensch unternehmerisch überhaupt erst an Orte und auf Plattformen bewegen, wo ich von Partnern gefunden werden kann. Die Handlung, sagt Luhmann, legt weite Wegstrecken zurück, ehe sich eine Liebesszene realisiert. Die Wegzehrung besteht aus »Liebe zur Liebe«.
Wie eng darf eine Verbindung sein ...?
In Platons Gastmahl geht es um die Verliebtheit. Der Teilnehmer Aristophanes erzählt von den Anfängen der Menschen, die zunächst Doppelwesen mit vier Armen, vier Beinen gewesen seien, die in die Erde zeugten; zuletzt fühlten sie sich so stark, daß sie den Götterhimmel erstürmen wollten. Zur Strafe läßt sie Zeus halbieren. In seinem Auftrag wurden sie in eine männliche und eine weibliche Hälfte zerschnitten, jetzt nur noch je zwei Arme, zwei Beine, die Haut wie bei einem Schnürbeutel auf dem Nabel zusammengezurrt. Seither sind sie sehnsuchtskrank. Die Liebe treibt sie zueinander, sucht die alte Natur des Doppelwesens zurückzuerlangen, aus zweien eins zu machen.
Im Verlauf des Gesprächs wird ein praktischer Vorschlag gemacht: »Und wenn zu ihnen, während sie dasselbe Lager teilten, Hephaistos mit seinen Werkzeugen hinanträte und sie fragte [...]: Ist es das etwa, was ihr wünscht, möglichst an demselben Orte mit einander zu sein und euch Tag und Nacht nicht voneinander zu trennen? Denn wenn es euch hiernach verlangt, so will ich euch in eins verschmelzen und zusammenschweißen, so daß ihr aus zweien einer werdet und euer ganzes Leben als wie ein Einziger gemeinsam verlebt, und, wenn ihr sterbt, auch euer Tod ein gemeinschaftlicher sei, und ihr dann wiederum auch dort im Hades einer statt zweier seid.« 19
Dieser Vorschlag, zusammengenietet zu werden, geht den Liebenden jedoch zu weit. Es ist keineswegs ein zweckmäßiger Zustand, mechanisch aneinandergekettet zu sein. Es geht vielmehr um das genaue Maß, das ein Ungefähres einschließt: bestimmte Quanten an Eigenbewegung, bestimmte Quanten an Berührung.
Sich hierauf beziehend spricht Luhmann von GLÜCKSQUANTEN und von einer NERVENWAAGE , die sie mißt und die ein Mensch in sich trägt.
Die Siedlungsfläche (der Oikos) der zärtlichen Kraft bevorzugt das Robuste, das Einfache und nicht das Individuelle ...
Übereinstimmend mit den Evolutionsbiologen verfolgt Luhmann die verschiedenen Typen von
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