Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Freia, »ob du auch noch so laut schlägst, ich will dir Schweigen gebieten!« Ihr gefiel der junge Graf sehr, aber sie achtete sich selbst und suchte deshalb die junge Gräfin zu schützen.
Wie seltsam aber war Freia berührt, als eines Tages die Gräfin als verschwunden galt. War sie verlorengegangen? Die Bediensteten des Schlosses und der Graf suchten vergebens, bis Freia in einer Ecke der Schloßkapelle, dort wo es zu den Gräbern der Verstorbenen hinabging, Klagelaute hörte. Hier hatte der Graf die Gräfin eingesperrt. Freia und die Gräfin fliehen. Wohin? Zum Vater der jungen Frau.
Dies war der inzwischen nach Paris zurückgekehrte General Bouvier. Freia wird als Tochter erkannt. Die Erzählung vom hohlen Baumstamm erklärt alles. Jetzt könnte Glück herrschen. Freia aber bedauert zutiefst, daß sie eine Frau ist:
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»Schwöret, nicht mehr Weib zu sein,
gebüßet ist die Schmach,
sie stellt sich in die Kriegerreih’n
zum Sieg in der Türkei.«
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Verkleidet als junger Offizier folgt sie dem General nach Gallipoli, ja bis in den Krimkrieg. Bei Silistria liefert die Vorhut den Russen ein hitziges Gefecht. Freia rettet dem Vater mehrfach das Leben.
»Nach dem Gefecht erhielt sie als Lohn für ihren Muth den Orden der Ehrenlegion; im nächsten Gefecht aber machte eine feindliche Kugel auch ihrem Leben ein Ende.«
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»Sie schützt des Vaters Leben oft
im heißen Schlachtgewühl
sie erntet Kränze viel und oft,
bis sie im Kampfe fiel.«
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Die Erzählung folgt nicht den Regeln der Hochkunst. Der Erzählstoff ist inflationiert. In den Lücken der berichteten Tatsachen, die offensichtlich aus verschiedenen Zusammenhängen und Erzählungen herausgenommen und zusammengefügt sind, drängen sich andere Geschichten als die berichteten herein. Dieses Nicht-Erzählte, die zahlreichen, frei flottierenden Romanstoffe des Umfelds, enthalten den Grundstrom von Beweggründen, welche die unwahrscheinlichen und abrupten Wendungen der Moritat, immer in Richtung auf Glücksuche, motivieren.
Ist in der Prinzessin von Clèves eine vorwärtsgerichtete »Produktion des eigenen Lebens«, die Respektierung der Eigenliebe der Kern, so ist es hier die ANPASSUNGSBEREITSCHAFT AN WECHSELNDE , WANDERNDE SCHICKSALE . Freia ist jederzeit bereit, auf neues Glück, auf Freundlichkeit von Menschen zu reagieren. Sie tut das seit ihrem ersten Lebenstag. Das Kind gewinnt das Herz der Hirtin. Auch die Gräfin Weinholm ist entzückt von dem jungen, derzeit malträtierten und am Straßenrand vegetierenden jungen Mädchen. Das gleiche gilt für den jungen Grafen, der zum Verbrecher wird (ähnlich dem Vorgehen des Franz Moor in Schillers Räuber ).
Die in die Gruft eingesperrte Gräfin hätte sterben können. Freia in Begleitung der von ihr geretteten Junggräfin lernt freudig deren Vater kennen und erntet die Anerkennung als Generalstochter. Sie und die Gerettete sind Schwestern. Kann man Glücksfälle steigern? Nach Annahme Freias wohl nicht im Gewand einer Frau. Die großen Laufbahnen ergeben sich auf der Seite junger Männer und auf den Schlachtfeldern der Befreiungskämpfe (Freiheit für Italien, Befreiungskampf gegen die Türken und das reaktionäre Rußland). Der Krimkrieg, Ort des ersten Siegeszuges der berichtenden Fotografie, ist das Todesfeld, auf dem die noch junge Freia stirbt.
Eine Differenz von fast 200 Jahren und die gesellschaftliche Fallhöhe zwischen einer plebejischen Schicht des 19. Jahrhunderts und der Oberschicht des 17. Jahrhunderts kennzeichnen den Unterschied der beiden Erzählungen. In beiden Fällen sind aber Tod und Zölibat der Preis für die Unteilbarkeit und Unverletzlichkeit der zärtlichen Republik.
7
Wie würde man heute den Roman Die Prinzessin von Clèves weiterschreiben? Wäre das im 21. Jahrhundert möglich?
Das Gehirn zersiebt von einem Flug in der lärmigen Touristenklasse von New York nach München (mehr zahlt die Universität nicht), aber belebt von Worten wie ›devoir‹, ›vertu‹, ›raison‹, ›science du cœur‹ (Theorie der Gefühle), Begriffe, die für ihn wie Drogen wirken – jedes dieser Worte ruft Landschaften von bis zu 3000 Texten hervor –, also im geistigen Sinne ausgeschlafen, trifft der Philologe am Ort des Interviews ein und nimmt sogleich Stellung.
Ein Mensch von heute, sagt Anselm Haverkamp, wird nicht als Fräulein von Chartres geboren (spätere Prinzessin von Clèves). Man müsse die Fortschreibung der Prinzessin von Clèves operativ und offensiv
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