Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Liebesbeziehungen, die sich darin unterscheiden, ob sie Reproduktion fördern oder verhindern. Die überzüchtete oder auch nur Zuchtwahl anstrebende erotische Tendenz gehört zum Typus, der wenig Nachwuchs hat. So sei Luise Miller, die ja ihren gesellschaftlichen Stand und auch ihren Gen-Typus durch Einheirat in den Adel verbessern wollte, dazu verurteilt gewesen, Gift zu nehmen und niemals Kinder zu haben. Hätte sie den Sekretär Wurm geheiratet, wäre sie dagegen im Mittelfeld der objektiven Chancen geblieben und sähe im Alter vermutlich auf sechzehn Kinder und Enkel. Sie hätte, so Luhmann, keine Romane lesen dürfen. Wer schließt aus, daß mindestens eines der Kinder sie glücklicher gemacht hätte, als es die Elendsgeschichte mit dem jungen Ferdinand von Walter vermochte?
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Abb.: Der Herzog von Nemours sieht zu, wie ein Porträt der Prinzessin gemalt wird. Der Maler: eifrig. Der Herzog stiehlt ein Porträt der Prinzessin, das neben einem Kästchen auf einem Tisch liegt und das dem Maler als Skizze diente.
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Einzelheiten einer Intrige
Über den Roman der Madame de La Fayette heißt es:
»Ein Mann, zum Vertrauten seiner Frau gemacht, die ihn auf tugendsamste Weise der Welt tötet.«
Gerhard Hess widerspricht dieser Feststellung. Er bestreitet die Tugendhaftigkeit der Prinzessin von Clèves und charakterisiert ihr Verhalten als »Furcht vor dem Wagnis«. Es handele sich um eine »Tragödie der Lebensangst«. Gegen Hess wendet sich A. Gartmann. Es gehe keineswegs um eine »Katastrophe der Lebensangst«, vielmehr um das Projekt der »Bewaffnung der Gefühle«. Endlich sollen sie zum Widerstand, zur Emanzipation fähig werden. Emanzipation entsteht auf der Grundlage von amour propre .
Jeder, der solche Eigenliebe besitzt, muß eine Angriffs- und Verteidigungsstrategie entwickeln, um sich gegen die Eigenliebe der anderen zu schützen. Das daraus folgende Defensivsystem gegen sich selbst und die anderen, die Kunst der Angriffs- und Verteidigungswaffen, nennen wir VERNUNFT .
Abb.: Das Geständnis. Man sieht die Verzweiflung des Prinzen von Clèves, der sein Gesicht mit der Hand verdeckt. Im Hintergrund belauscht der Herzog von Nemours die Szene und vermutet, daß die Prinzessin ihn liebt. Auf dem Rückweg von seinem Lauschposten zweifelt er schon wieder, daß er der Ungenannte im Geständnis ist, und fühlt Eifersucht.
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Abb.: Der Herzog von Nemours auf seinem Lauschposten.
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Wandernde Schicksale. Eine Moritat ...
Man vergleiche mit diesem Roman der französischen Klassik, einer elaborierten Liebesphilosophie, die Verwirrung einer plebejischen Erzählung aus dem 19. Jahrhundert: Freia, das Findelkind. SIEG UND ENTSAGUNG oder Die Heldin von Silistria, eine Moritat . Solche romanähnlichen Erzählungen entstanden anonym. Bevor sie niedergeschrieben wurden, wurden sie in verschiedenen Versionen mündlich vorgetragen und unter dem Einfluß des zuhörenden Publikums mehrfach verändert und kompiliert. Sie sind das Schattenbild täglicher Gefühlspraxis.
In jenen Tagen, in denen die auf den Thron in Frankreich zurückgekehrten Bourbonen durch die Juli-Revolution verjagt wurden, mußte ein General namens Bouvier fliehen. Der Reisewagen des Generals fuhr durch die Ardennen. Unterwegs gebar die schwangere Generalin ein Kind. Es sind Verfolger in der Nähe. Die Generalin stirbt.
»Der General, die kalte Hülle der Dahingeschiedenen im Arm, ließ sich bewußtlos dahinfahren, wohin das Schicksal ihn leiten wollte ...«
Der Kutscher des Generals scharrte ein Grab für die Tote. Das scheinbar leblose Kind legte er in einen hohlen Eichenbaum. Die Flucht des Generals nach Sachsen glückte.
Am folgenden Morgen fand ein Hirte das Kind, das Klagelaute von sich gab, im Eichenbaum; er adoptierte das verlassene Wesen. Das Geschöpf fand Kontakt zur Hirtin, die es nährte. Später starb diese Ziehmutter. Eine Stiefmutter, die der Hirte als Ersatz genommen hatte, vertrieb das Kind, das Freia hieß. Den Namen verdankte das Kind der Tatsache, daß es an einem Feiertage gefunden worden war. Die germanische Göttin, die Freia hieß, Gemahlin Odins, kannte der Hirte nicht.
Das Mädchen Freia wurde von einer Gräfin Weinholm, die Güter bei Wesel besaß, am Wegrand gefunden und aufgenommen. Diese Gräfin hatte einen Sohn, der vom Studium in Paris ins Schloß heimkehrte und mit einer jungen Gräfin verheiratet wurde, dennoch aber, von Freias Schönheit und Anmut bezaubert, dieser nachstellte. »Schweige, Herz«, rief
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