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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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verstehen: Wie bewege ich mich in einer Welt, in der ich ersetzbar bin, an einen Ort, an dem ich gebraucht werde? Wie komme ich auf eine Bühne, die eine Romanhandlung zuläßt? Der Weg, mit Kompromissen auf die Moderne zu antworten und vom Niveau des Romans abzusehen, sei dagegen versperrt, so Haverkamp. Gerade in der Massengesellschaft, in der das Ideal für den Einzelnen in die Ferne rücke, komme ein weniger an Einmaligkeit, Selbstachtung, Authentizität, Befähigung zur Ausübung von Treue nicht in Betracht. Bei Unerreichbarkeit bewegt sich der Wert des Ideals, so sagen es die literarischen Quellen, gegen unendlich.
    Der Journalist, der das Interview führte, kam aus dem Feuilleton der SZ . Was wären das für Quellen, fragte er, die das Schicksal des Liebesideals in der Massengesellschaft behandeln? Ulysses von James Joyce? Berlin Alexanderplatz von Döblin? Dos Passos, Manhattan Transfer , Früchte des Zorns von Steinbeck? Ich könnte Ihnen noch 2000 weitere Texte nennen, antwortete der Gelehrte. Die Zurückhaltung gegenüber der Praxis in der Massengesellschaft bei Robert Musil oder bei Proust sei nicht typisch.
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Sie behaupten, gerade moderne Menschen seien in Liebesdingen gegen Kompromisse, gegen Resignation?
Sie können ja einen Kompromiß versuchen, aber die menschliche Verfassung läßt ihn nicht zu. An irgendeiner Stelle bricht der Kompromiß zusammen.
Insofern, behaupten Sie, gibt es keine Massengesellschaft?
Offenbar nicht.
Aber im Gegensatz zur Prinzessin von Clèves sind heutige Menschen in der Regel ersetzbar.
Sie erscheinen ersetzbar.
Ökonomisch sind sie es.
In ihren Empfindungen sind sie es nicht.
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    Ob er das Empfinden etwas Objektives nenne? Selbstverständlich. Die zärtliche Kraft habe eine objektive Natur. Man könne das an der Stärke der Emotion beobachten, wenn in den Medien von Einmaligkeit berichtet werde, wie sie in der Prinzessin von Clèves das Thema bilde.
    In dieser zweiten Welt, abgehoben vom Alltag, sterbe zum Beispiel Lady Di. Die Fernsehdirektoren, so der Philologe, hätten dieses Ereignis unterschätzt. Sie seien durch die Zuschauer gezwungen gewesen, ihr Programm zu ändern. Aber der Sohn des Kaufhausbesitzers, im Fahrzeug der Prinzessin tödlich verunglückt, erinnere doch in keiner Weise an den Herzog von Nemours, warf der Interviewer ein. Der Verführer und Rittmeister, der eine Zeitlang die Prinzessin Di getröstet habe, bestätigte der Philologe, sei ein Schwätzer, der sich seiner Erlebnisse mit der Prinzessin in seinen Memoiren gerühmt habe, er entspreche keinem der Idealbilder der Verliebtheit, wie sie den Roman der Prinzessin von Clèves bevölkern. Der Zerrspiegel werfe nur intensiveres Licht auf die Lady, das heißt auf das, was die Zuschauer berühre. Haben Sie beobachtet, fuhr Anselm Haverkamp fort, wie in allen TV -Sendern den Tag über eine Kerze brannte, quasi im Gedenken an die Prinzessin. Das sei, behauptete der Philologe, ein direkter Abkömmling der Kerze, die in den letzten Zeilen von Tolstois Roman Anna Karenina herabbrenne, »wie das Lebenslicht einer schönen Frau erlischt«. Solche Metaphern hätten ein ewiges Leben. Die Tagesprogramme der Medien hingegen nicht. Hier sehe man das Walten der zärtlichen Kraft in den eifrigen Seelen der Zuschauer, die in solchen Ernstfällen die Programmdirektionen zur Programmerweiterung zwängen.
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Sie meinen also, Lady Di sei die Fortsetzung der Prinzessin von Clèves? Und es fehle nur der Roman?
Man weiß ja nicht, ob es den Roman nicht schon längst gibt. Und er muß auch nicht die Gestalt eines Buches annehmen. Vielleicht war das VERÄNDERTE PROGRAMM fast aller Stationen, also die Verdrängung des Routine-Programmes, der Roman. Das wäre ein unsichtbarer Text, die Herstellung einer Leerstelle im Lärmpegel des TV .
Nehmen Sie ein anderes Beispiel für Einmaligkeit: Frau Klatten, einmalig kraft Geburt und Erbin. Aber worin gleicht der Hochstapler und Gigolo, der ihr begegnet, einem Herzog von Nemours?
Die Umsicht und Vorsicht, welche die Madame de La Fayette ihrer Prinzessin mitgibt, kommt hier zu spät.
Kann ein Mensch in der Massengesellschaft von einem solchen Fall, dem er wie auf einer Bühne, einer zweiten Welt, zusieht, Erfahrung für das eigene Leben ableiten, also eine Kartographierung vornehmen? Wie kann er sich orientieren? Ein Gigolo (oder die entsprechende weibliche Umgarnung) wird sich ja für ihn, den Nicht-Erben, nicht interessieren?
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    Da irren Sie, antwortete der Philologe. Was wissen

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