Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Zunächst hatte er als Mathematiker gelebt (mit d’Alembert), dann als öffentlicher Kritiker (mit Voltaire), und nun »schiffte er sich ein auf den Ozean des politischen Lebens«. Dieser ernste Mann war voller Elan. Den Witz früherer Zeiten konnte er dabei nicht entbehren. Von ihm stammt der scharfsinnige »Brief eines jungen Mechanikers«. In der brisanten Frage, ob es eine Republik, eine konstitutionelle Monarchie (wenn ja, wie eingerichtet?) oder nur eine Modifikation der königlichen Ministerien geben solle, mischte er sich ein. Der junge Mechaniker verpflichtet sich in jenem Brief Condorcets, für ein geringes Entgelt einen KONSTITUTIONELLEN KÖNIG herzustellen, der bei gelegentlicher und sorgfältiger Reparatur sogar »unsterblich« sein werde. Mit dieser Ausschmückung machte Condorcet sich bei den Jakobinern verdächtig, bei den Royalisten unbeliebt.
Er machte sich kein falsches Bild von der Gefährlichkeit seiner Lage. Es war nicht abzusehen, welche der Kräfte in einem im Moment noch verharrenden Bürgerkrieg die Oberhand gewinnen würden. Später fürchtete er Folgen für seine Frau und das junge Kind, das Geschöpf der »heiligen Julitage des Jahres 1«. Er suchte heimlich nach einem Hafenort, von wo aus seine Familie fliehen konnte, und entschied sich für Saint-Valéry.
La grande peur
1788 herrschte in Frankreich extreme Dürre. In der Schweiz und einem Teil Frankreichs schwerer Hagelsturm. Ein Fünftel der Getreideerträge war verloren. Dem folgte 1788/89 ein extrem kalter Winter. Tauwetter: Überschwemmungen. Eine Viehseuche. Überfälle auf Getreidetransporte, die aus dem Süden und Südwesten die Hauptstadt erreichen wollten. Bewaffnung der Bauern. Diese Elemente der Erfahrung und Werkzeuge der Gegenwehr, ohne welche die GROSSE FRANZÖSISCHE REVOLUTION nicht stattgefunden hätte, nennt man GRANDE PEUR . Vom König hieß es, daß er der Räuber nicht Herr werde, weil er gleichgültig sei. Er müsse Brot wachsen lassen. Das gehöre zu seinem königlichen Charisma; er wende es nicht an. Es sei bekannt, daß er lieber in seiner Schmiede unnützes Werkzeug verfertige. Meist war er abwesend, auf Jagd. Keiner dieser Eindrücke hätte fehlen dürfen, als es um den Aufruhr im folgenden Jahr ging. Es ist falsch, die Meteorologie kausal mit der Revolution zu verknüpfen, sagt Adrian de St. Prieur. Aber Auslöser war sie gewiß. Prieur hält die extreme Dürre von 1788, gefolgt vom exzessiven Winter, für eine »Enklave der kleinen Eiszeit«, die ihre Periode hundert Jahre zuvor hatte.
Übermut des Gedankens / Kalender der NEUEN ZEIT
Am 21. September 1792, zum Zeitpunkt der Tag- und Nachtgleiche (die Sonne trat in das Zeichen der Waage, also vom »Reich des Verbrechens« in das »Reich der Gerechtigkeit und des Ausgleichs«), beschlossen die Deputierten des Konvents in Paris die Abschaffung der Monarchie. Mit diesem Tag begann das Jahr 1 des neuen Zeitalters. Später sollte ein republikanischer Kalender eingeführt werden. Kurz darauf stellte sich heraus, daß in der Nacht zum 22. September 1792 mit der Kanonade von Valmy der Rückzug der Armeen der Konterrevolution erzwungen worden war. Es konnte kein Zufall sein, nahm man an, daß die Himmelsereignisse des Tierkreises und der WAHRHEITSMUT der historischen Ereignisse koinzidierten. Deshalb wurde der republikanische Kalender auf den Tag dieser Überschneidung zurückdatiert. 35
Der diese Ausarbeitung des Revolutionskalenders betrieb, war der Deputierte Gilbert Romme, Mitglied des Erziehungsausschusses im Konvent. Der gebildete Mann war Erzieher für den Sohn des Fürsten Stroganoff in Rußland gewesen, hatte am Hof Katharinas der Großen geglänzt. Im Oktober 1793 unterbreitete er dem Konvent seinen Entwurf, der nach einigen Änderungen zum 24. November 1793 in Kraft gesetzt wurde. Schema war das Sonnenjahr des altägyptischen Kalenders. Daraus ergab sich die Aufteilung des Jahres in 12 Monate zu 30 Tagen, des Monats in drei Dekaden, womit der Sonntag als Dekadie, zehnter Tag, brüderlich den Wochentagen beigesellt und der Christensonntag liquidiert war. Das »l’ère vulgaire« war Vergangenheit. Da aber die Jahreslänge von 365 ¼ Tagen des Julianischen Kalenders, Resultat astronomischer Messungen der Renaissance, beibehalten wurde, folgten die SANSCULOTTIDEN , eine Serie von Festen. Außerdem gab es alle vier Jahre einen jour intercalaire zu feiern, nach dem Muster der antiken olympischen Spiele als Gelegenheit zur Körperertüchtigung.
Eine
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