Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Reichs- und preußischer Innenminister sowie Chef der Polizei geworden. Sein Name war im Telefonverzeichnis für den Eilfall gesondert notiert.
Der Sohn dieses Mannes saß vor mir in seiner Villa in einem Münchner Vorort. Sein linkes Auge ist blind, sein rechtes wartet auf eine Operation. Er beherrscht die Erzählformen seiner Zeit. Daher ist es nicht notwendig, daß das, was er erzählt, aktuell ist, sondern daß es aus Lebenserfahrung erzählt wird. Eben beschreibt dieser Mann, der auserwählt und bereit war, Hitler unter Einsatz seines Lebens zu töten (und sein Vater bestärkte ihn in dieser Absicht), wie er nach seiner Verhaftung im Bendlerblock noch einmal kurz neben seinem Vater zu stehen kam, der ebenfalls verhaftet war. Sie verständigten sich über ihren Willen, Haltung bis zum Tode zu bewahren. Der SS -Scharführer ließ den Kontakt zu. Später bewegte sich der Sohn von Kleist, der Frondeur, nach Italien, rettete sich in die neue Zeit und wurde Gründer der Munich Security Conference. Das Geschehen, von dem er berichtet, wird 2014 nochmals zur 70-Jahr-Feier des Attentats vom 20. Juli 1944 das Interesse der Öffentlichkeit erreichen. In der Zwischenzeit handelt das Gespräch von Ereignissen »zwischen den Zeiten«. Kein Maß der Aktualität regelt, wie lang und wie kurz Rede und Antwort sein sollen. Und doch überbrückt die Form des Gesprächs, die ein Derivat noch der Kriegszeit ist, das WIE DES ERZÄHLENS , den Mangel an aktuellem Bezug zur Zeitgeschichte.
Der letzte Stenograph des Führers
Der letzte Reichstagsstenograph, der am 30. April 1945 den Bunker unter der Reichskanzlei verließ, so berichtet es Detlef Peitz, Regierungsdirektor im stenographischen Dienst des deutschen Bundestages, trug eingenäht in seine Uniform Hitlers Testament. Mit drei Offizieren erreichte er von der Stadtmitte aus die Ausgangsstellung zum Durchbruch durch die sowjetischen Linien knapp westlich des S-Bahnhofs Heerstraße. Sie erreichten die Havel und deren Seen noch in der Nacht, paddelten zu dem Wasserflugzeug, das an der verabredeten Stelle wartete. Sie konnten sich aber gegenüber dem Kommandanten der Maschine nicht ausweisen. Die Naht im Uniformrock aufzureißen und sich durch Vorlage des Testamentes und Hitlers Unterschrift darauf zu legitimieren, konnte sich der Stenograph zunächst nicht entschließen. Von Südwesten setzte Artilleriebeschuß ein. Da befahl der Kapitän des Wasserflugzeugs den Start, ohne die Paddler aufgenommen zu haben.
Dennoch brachte der Stenograph das Testament befehlsgemäß in den Westen. Die Restgruppe des stenographischen Dienstes im Führerhauptquartier war schon zuvor zum Obersalzberg ausgewichen. Die etwa 100000 Seiten der stenographischen Protokolle aller Lagebesprechungen von 1942 hatten sie bis auf einen Rest befehlsgemäß verbrannt, ehe die Alliierten davon Besitz ergreifen konnten.
Ein Philologe als Opferlamm
Wäre er in der Lagunenstadt ergriffen worden, wäre die Gefahr für ihn gering gewesen. Da man ihn als einzelnen Lehrer und als Faschisten der dreißiger Jahre nicht isoliert herausgestellt hätte (es gab davon so viele in der Stadt). Hier aber in der Provinz, wo jeder jeden kannte, war es gefährlich, angeklagt zu sein. Man sagt, eine Menschenmenge sei ein Schutz, wenn Einbrecher kommen, man müsse nur rufen. Das galt nicht bei Umsturz. Die vielen, die diesen Lateinlehrer kannten und geschätzt hatten, schwiegen. Das Wort hatten herangereiste Bewaffnete, Partisanen in weißen Regenmänteln; die hatten sie in einem Warenlager beschlagnahmt. Sie bildeten in der kleinen Stadt wie in einem eroberten Gebiet sogleich ein Volksgericht. Den Lehrer Tullio Santi kostümierten sie (zu seiner öffentlichen Schande) mit einem Mantel der deutschen Wehrmacht. Dieser Angeklagte sollte eine Fahnenstange vor seiner Brust tragen; er sah aber nicht nach einem Faschisten der dreißiger Jahre aus, sondern erinnerte an einen Beschuldigten, der ein Kreuz hielt. Der alte Herr sah grämlich aus.
Das Bild eines feigen oder armseligen Mannes wollte der Lehrer vor den im Ort verstreuten Schülern und ihren Eltern, von denen er einzelne in den Reihen der Schaulustigen erkannte, nicht bieten. Die Texte der STOA hatte er im Kopf. So wollte er auch vor diesem Gericht seine früheren Haltungen nicht plötzlich verleugnen. Er hatte ja in den dreißiger Jahren zur Bewegung des norditalienischen Faschismus gezählt, wenn auch in ruhiger, gemessener Haltung und nicht südländisch fuchtelnd und nicht in
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