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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Schmidt, ein leichtsinniges Huhn: Lebenslauf eines Davongekommenen, der persönlich nie gefährdet war. MANN OHNE SCHICKSAL . »Er läßt sich braun brennen.« Ohne Schuld kommt er nicht aus, aber ohne Schuldgefühl sehr wohl. → Manfred Schmidt, Chronik der Gefühle , Band II , S. 748-769. 
Kommentar
    Ein Zwölf- bis Sechzehnjähriger des Jahres 2011 wäre in einem der Jahre geboren, denen Bundeskanzler Kohl vorsaß, oder in der Zeit von Bundeskanzler Schröder und Präsident Clinton. Die Zahl der Jahre entspricht denen des Dritten Reichs (mit Peripherie).
    Im Jahr 1945 wäre ein Sechzehnjähriger von einem vielleicht 26jährigen Major befehligt worden, der seine Leute noch über die Elbe in Richtung Westen zu führen versucht hätte. Alle Herausforderungen sind anders als im Jahr 2011 und in den zwölf Jahren davor. Die Ereignisse, die heute fern von Mitteleuropa in der Welt stattfinden (Ägypten, Syrien, Jemen, Libyen, Japans Verstrahlung, auch die globale Börse), zeigen eine Beschleunigung der Zeit, eine aktuelle Verkürzung, welche die Wahrnehmung zersetzt. Was unterscheidet die Erzählung von Lebensläufen im 21. Jahrhundert von denen in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts? Gelten die Unterschiede nur für die Zeit und ihre Erlebnisdichte? Oder erzählen die Zeiten in ganz unterschiedlichen Sprachen?
    Günter Gaus, 1929 geboren, Gründer der Gesprächsserie »Zur Person«, behauptet von sich, er habe geweint, als er erfuhr, daß Hitler tot sei. Nationalsozialistisch gesinnt war er zu keinem Zeitpunkt seines Lebens, schon durch das Elternhaus gefeit. Und doch ergriff ihn das Geschehen. Befragt zu seiner Äußerung (von der ein Teil sich der Provokationslust von Gaus verdankt, die er gegen den Gratismut eines nachträglichen Widerstandsgeists richtete), wies er darauf hin, daß die Zeit von 1941 bis 1945 eine extreme VERDICHTUNG DER EREIGNISSE enthalte (für die Empfindung eines Zwölf- bis Sechzehnjährigen). Das Gefühl könne mit einem so raschen Wechsel der Situation nicht umgehen und empfinde Trauer nicht bloß über das Resultat der Geschichte, sondern über den Vorbeiflug der Geschichte selbst.
Porträt einer Individualistin
    Anita G., die 1958 im Alter von 22 Jahren ins Gefängnis kam (in der Erzählung unscharf zwischen 1958 und 1962 plaziert), feierte im Jahre 2011 ihren 75. Geburtstag. Nun enthält diese Formulierung eine Übertreibung insofern, als Anita G. ihre Geburtstage nie feiert. Gerade daß sie abwartet, bis einige Nachbarn und ihre Tochter ihr gratulieren, daß sie die Ungeduld zügelt, die sie bewegt, daß diese Prozedur rasch abgetan sein soll. Sie ist nicht froh darüber, daß sich ihr Leben um die Perspektive eines weiteren Jahres verlängert. Sie zweifelt, ob sie ihr Leben liebt. Währenddessen bewegt sie sich in ihrer kleinen Wohnung voran, putzt, ordnet die Sachen, ißt und trinkt. Das spricht dafür, daß sie es in ihrem Leben aushält. Aushalten aber heißt dulden, etwas in sich aufnehmen, wie das Känguruh in der Bauchfalte sein Junges hält. Da findet sich ein Fürsprecher in den Stimmen, mit denen Anita G. spricht, wenn sie allein ist (das ist sie durchwegs). Diese Stimmen sagen ihr, sie solle nicht aufgeben. Ist Trotz ein Lebenselixier? Ein Verflossener, den sie nicht liebte, mit dem sie aber glaubte es in besonderem Maße aushalten zu können und den sie somit eine Zeitlang umwarb, bezeichnete sie als Ein-Mann-Indianerstamm. Sie sei zu sehr Individualistin, eine unteilbare Republik, als daß man mit ihr Verträge schließen könnte. Sie wollte auch keinen Vertrag, sondern Zusammenhalt.

    Abb.: Leserin in China.
Philologen im neuen China
    Philologen wie Eberhard Schincke wachsen, wenn sie in einem Teil der Welt auszusterben scheinen, in einem anderen nach. Seit HIERONYMUS IM GEHÄUSE , dem Vorvater, der selbst keine Kinder zeugte, aber Nachfolger mit seinem Geist beflügelte (wie eine Droge wirken die Texte), hält sich in der Ferne in gleicher Zahlenstärke wie früher in Europa die Fraktion der »Wächter der Worte«, die etwas so Ungefähres produzieren wie »allgemeine Aufmerksamkeit«. Jetzt, zwei Generationen nach Gründung der Volksrepublik, wurden solche Philologen in China entdeckt. Chinas produktive Sektoren erneuern sich in ganz unterschiedlichen Zeitintervallen: Im Filmbereich gibt es sieben Generationen, im Ingenieurssektor 28, für die Raumfahrt 77, für die Literatur immer noch ein und dieselbe, die 1908 beginnt. Neuerdings sitzen, wie gesagt,

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