Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
22jährige Gelehrte vor ihren Computern und beginnen nach soviel verschluckter Realität mit der Reflexion. Auch in Kolumbien wurden an einer Universität sechs und an Universitäten der USA zwölf Nachfolger von Eberhard Schincke gefunden, außerdem zwei an der Universität Sendai in einer Präfektur Nordjapans – die sind allerdings am Institut für Paläogeologie tätig (weltweit vernetzt mit ihren Fachkollegen, die sich mit der Untersuchung früher Gebirge und Gesteine des Erdmantels befassen). Ihr philologischer Gegenstand ist die Erdkruste: eine Schrift von hoher Eigenart und Gegenwart, oft unter dem Boden der Kontinente oder der See verschwunden.
Wenig Unglück gibt es in der Welt, auf das sich Kortis Vorsicht nicht erstreckt
Korti ist inzwischen 91 Jahre alt. Längst ist er aus dem Justizdienst ausgeschieden. Er hat die Energie seiner Selbstverteidigung vermindert, weil er nicht glaubt, daß er noch wichtig genug ist, angegriffen zu werden. Gegen elf Uhr früh nimmt er zur Stärkung ein doppeltes gequirltes Ei mit einem Schuß Rotwein zu sich. Das geht in die Adern und hilft dem Kreislauf auf bis zum Mittag. Gern würde er inzwischen das Mittagessen um eine halbe Stunde vorziehen. Die Intensität, die Abarbeitung der Aufgaben, reicht nicht mehr für den langen Vormittag, der sich stetig erweitert, weil Korti zu früh aufwacht und die Verdauung ihn aus dem Bett treibt. Er kann sich zu dieser Vorverlegung der Mittagszeit jedoch nicht entschließen, weil er befürchtet, daß dann der Nachmittag bis zur Teestunde, in der er einen Toast mit Blutwurst zu sich nimmt, zu lange dauert. Inzwischen verteidigt er sein »System« nicht mehr gegen Feinde, sondern gegen Wartezeiten.
Er schiebt schon einige Kurzspaziergänge ums Viereck als Extras in den Tageslauf ein. Sein Arzt hat ihm Aktivanat verordnet, ein Mittel, dem er insofern mißtraut, als es ein Suchtmittel, nämlich Koffein, enthält, auch kleine Prozente an Alkohol. Er nimmt das in Kauf, weil der Schluck, den er im Meßglas abmißt, ihn aufputscht. Lebensgewinn gegen Grundsatzverlust. Nach der Pensionierung, die so lange schon zurückliegt, hat er den Rhythmus der Tage nie wieder zum Selbstlauf gebracht. Es ist ihm jetzt schon gleichgültig, ob er seine »eingerichtete und ausgeübte Existenz« noch lange durchhält. Alle, die er kannte, sind um ihn herum gestorben. Wird er zu einer Beerdigung eingeladen, geht er schon gar nicht mehr hin. Er berichtet an niemanden. Würde er, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, nochmals angegriffen, würde er sich nicht mehr verteidigen. Wenn doch der ganze Lebenssinn auf Selbstverteidigung beruht!
»Ein ganz junger und begeisterungsfähiger Mensch«. Jetzt, 77 Jahre alt geworden, gelangt er an sein Ende
Bis Mitte April 2011 zogen die Regenwinde in großer Formation vom Atlantik in genereller Richtung Osten. Das im Sommer sehnsüchtig bezogene neue Haus an der Nordspitze des Sees erwies sich im Winter als feucht und zugig. Für die Übergangszeit, die nicht Winter und nicht Sommer war (und sich im April als Nachzügler wiederholte), war dieses neue Haus unbeherrschbar. Da aber alle Filme, Vorräte, Unterlagen und Kunstschätze hier untergebracht waren, ließ es sich nicht durch einen Entschluß stillegen. Es blieb emotionale Baustelle.
Schon Anfang des Jahres wurde dem ehemals »ganz jungen und begeisterungsfähigen Menschen« beim Treppensteigen häufig schwarz vor Augen. Dann suchte er am 13. April wegen der beständigen Rückenschmerzen einen Heilpraktiker auf. Der drückte und preßte den Rücken, riet, einen Urologen zu konsultieren. Der Facharzt sah keinen Befund. Eine Computertomographie, meinte er, sei der nächste Schritt.
Der Gang zu dem technischen Gerät war der Unglückstag unseres Prinzen. Die Ärzte hatten rasch ihre Diagnose bereit. Es gebe keine Aussicht auf Heilung. Was denn im Körper falsch wäre? Er war empört. Die Ärzte fanden keine Tonlage, in der sie ihm die Nachricht so übermitteln konnten, daß er sie annahm. Er verstand die Experten so: Nach den Regeln der Statistik sei er bereits seit 2,5 Jahren tot. Es sei erstaunlich (das wiederum gefiel ihm), wie er äußerlich aussehe. Danach zählten sie ohne Milderung auf, welche Partien seines Körpers (ausgehend von einem ohnehin nicht heilbaren Karzinom der Bauchspeicheldrüse) bereits befallen seien. Er trage lauter Tod in sich. Jetzt erklärte sich auch der hartnäckige Hustenreiz im Vorjahr. Kann man nicht für Geld so etwas wie die Leber
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