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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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der Grund dafür, daß er ihr zunächst die Stellung einer Magd im elterlichen Haus anbietet. Dorothea mißversteht das. Sie will nicht Kebsfrau des künftigen Erben werden. Hier entwickelt Goethe eine Theaterintrige, wie sie eine Aufführung des Weimarer Schauspiels zum Erfolg gemacht hätte und wie sie am Ende eines zweiten Aktes üblich ist: eine Aussichtslosigkeit, die sich im dritten Akt glücklich auflöst.
Zwangsentwurzelte Evakuierte
    In Schleswig-Holstein haben noch im April 1945 Gemeindevorsteher bei dem zuständigen Oberpräsidenten interveniert mit dem Vorbringen, ihnen seien in übermäßigem Umfang Ostflüchtlinge zugeteilt worden. Junge Männer befanden sich in jenen Tagen im Krieg. Insofern war niemand da, der die aus Westpreußen geflüchtete junge Frau, die sich Rieke nannte, in die Familie oder das Unternehmen (im konkreten Fall ein Druckereibetrieb) hätte aufnehmen können. Die Frau war als im Saargebiet zwangsentwurzelte Evakuierte nach Schneidemühl in Westpreußen transportiert worden, von dort nach Schleswig-Holstein geflohen, dort unter Ablehnung der Aufenthaltsbewilligung weiterbefördert worden ins nördliche Niedersachsen. Dort traf sie, wie Arno Schmidt es beschreibt, auf den Hobbydichter Georg Düsterhenn. Sie war als Magd und Faktotum beschäftigt und wurde von ihm aus diesem Status nicht gerettet. Noch in den sechziger Jahren lebte sie wie »liegengeblieben im traurigen Zug der Vertriebenen«.
»Kommt ihr doch als ein veränderter Mensch«
    Meine Vorfahrin Caroline Louise Granier ist nicht in einem Flüchtlingstreck bis zum Südharz gelangt. Sie floh, wohlausgestattet mit Pferd und Wagen, Zubehör, auch einer Schatzkiste, individuell aus Paris. Mitglieder der zurückgebliebenen Familie wurden später hingerichtet. Sie war beschützt durch für Dritte nicht sichtbare familiäre Netze, auch solche, die nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern auf Gastfreundschaft beruhten. So durchquerte sie die Ardennen, wandte sich nach Süden, ließ sich nördlich von Mainz über den Fluß setzen. Sie zog von Adresse zu Adresse. So gelangte sie bis Sangerhausen, lebte kurze Zeit bei einem Pfarrer, der mit dieser Gastfreundschaft einem hugenottischen Geistlichen gefällig war, der ein Glied der verzweigten Familie Granier bildete. Dort lernte sie den Sekretarius Jakob Glaube kennen. Viele junge Männer am Südharz und im Ort Wippra sind zu diesem Zeitpunkt (ein reiches Jahrhundert spitzt sich zu) neuerungssüchtig.
    Eine aus der Ferne Angekommene, ähnlich jener, die den Zug der Vertriebenen anführte, kann einer als Beute betrachten. Die Mitgift liegt darin, daß eine unerwartete hauptstädtische Qualität hier in der Provinz anlangt. Würden sich die politischen Verhältnisse ändern, wäre sie vielleicht zu Hause eine reiche Erbin, und ein Prozeß der Wiedergutmachung zeigte sich am Horizont. Gern wäre Jakob Glaube ausgewandert. Nun ist ein Flüchtling zu ihm gekommen. Die Fremde und vielversprechende Ferne ist sozusagen zu ihm eingewandert, und Jakob Glaube wandert statt ins Ausland in die Ehe mit der Fremden ein wie in ein fernes, gelobtes Land. Er ist stolz auf sich. Gleim hat seine Wahl gelobt. Die junge Französin übernimmt kraftvoll die Regie des Hauses und gibt sie nie wieder her. Zwei Jahre später lesen sie mit Andacht Hermann und Dorothea .

    Abb.: Jakob Glaube, der Großvater der Mutter meines Vaters.
    Bild von 1795.
Begegnung auf der Flucht
    Auf ihrer Flucht aus Frankreich strandete in ihrem Jagdzweisitzer meine Vorfahrin Caroline Granier, spätere Frau Glaube, weil ihr die Pferde durchgingen. Das hat mein Cousin Burkhard Stein ermittelt, Richter in Tübingen (aus der Linie der Hermanns und Glaubes im Südharz). Der Unfall ereignete sich am Eingang des Städtchens Hohenspeyer. Es gelang Soldaten und Offizieren des preußischen Garderegiments Nr. 15, das Gespann aufzuhalten, die gefährdete Frau zu retten. Eine Runde bildete sich um sie in der Gastwirtschaft.

    Abb.: Heinrich von Kleist im preußischen Garderegiment Nr. 15. Er will zu diesem Zeitpunkt »wissenschaftlicher Offizier« werden.
    Einer der Offiziere schien meiner Vorfahrin aufgeregt und davon besessen, den Vorfall gründlich nachzuerzählen. Er habe ihr keine Avancen gemacht, erzählte sie, sondern bei der Lebhaftigkeit der Erörterung ihre Anwesenheit zunächst kaum bemerkt. In welcher Richtung müsse man abspringen, wenn das Gefährt außer Kontrolle gerät und die Pferde nicht zu zügeln sind? Es sei niemals leicht, sich

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