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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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den Anger gebildet hatte, auf dem der Treck der Vertriebenen aus Frankreich weit vor der Stadt sein Lager errichtet hatte. Die Züge der Evakuierten und Ausgebombten aus dem Rhein-Main-Gebiet rollen in Richtung Protektorat.

    Abb.: Hermann begegnet Dorothea, die im Flüchtlingstreck einen von Stieren gezogenen Wagen führt, wie es später einmal an einem anderen Ort die Burenfrauen tun werden. Transportiert wird eine reiche Frau, die ein Kind bekommt. Der Treck wird von einem Manne geleitet, der sich Richter nennt. Auf der Flucht aus den von Franzosen besetzten Gebieten werden die Rangunterschiede und Hierarchien mitgeführt.
Lieschen hat sofort gesehen, daß Hermann nicht umzustimmen ist
    »Da überließ sich dem Schmerz der gute Jüngling und weinte.« Lieschen, die Mutter, Ehefrau des Wirts zum Goldenen Löwen, hat den Sohn gefunden im hauseigenen Weinberg. Er sitzt auf der Bank unter dem Birnenbaum. Nach Haus will er nicht zurückkehren. Nie mehr betritt er das Elternhaus. Der Vater hat ihn verletzt. Er ist entschlossen, in den Kriegsdienst einzutreten. Wenn er die junge Frau aus dem Flüchtlingstreck nicht sofort heiraten darf, wirft er sein Leben woanders in die Schanze. Die Mutter tröstet vergebens. Jetzt muß sie sich aufmachen, List, Kooperation, Organisation einbringen. So werden der Pfarrer (ein Weltbürger, in Frankreich wäre er längst Politiker) und der Apotheker (verkappter Alchimist und Seelenarzt) ausgesandt, im Lager der Flüchtlinge die junge Frau, die das Herz von Lieschens Sohn gewonnen hat, zu suchen und zu prüfen.
    Im Lager (die junge Frau ist den beiden Weltmännern und Kundschaftern steckbrieflich bezeichnet) ist es nicht schwer, sie herauszufinden. Sie ist eine »Führungsperson«, die Kinder gruppieren sich um sie. Das Lager ist ein autonomes Gemeinwesen. Die von Lieschen ausgesandten Prüfer befragen einen älteren Mann, der das Oberhaupt der Gruppe zu sein scheint.
»Damit sich Acker an Acker schließt«
    »Denn der Vater wird alt und mit ihm altern die Söhne.«
    Der alte Herr hat Pläne. Der Sohn soll eine »Braut mit Mitgift« aus dem Kreis der Kandidatinnen der Stadt heiraten. Zuvor soll der Sohn die Welt kennenlernen. Eine Bildungsreise, die ihn nach Straßburg, Frankfurt und Mannheim führt, soll seinen Sinn entwirren. In seiner Weise ist der Wirt des Goldenen Löwen unbeirrbar. »Wer nicht vorwärtsgeht, der kommt zurück.« Es ist notwendig, die erworbenen Güter so zu vermehren, daß sie zusammengefügt eine Burg ergeben. Das beruht auf der Einsicht, daß alles Vermögen, alles Erworbene von selbst weniger wird. Der Vater fühlt sein Leben schwinden.
    An sich würde er den Sohn lieber in seiner Nähe haben, als ihn auf die geplante Bildungsreise zu schicken. Seine Grenze findet der starrsinnige Mann in der Meinung des weltbürgerlichen Pfarrers und des Apothekers. Er kann diesen »Kronrat«, bestehend aus seiner Frau und diesen beiden Unterstützern, nicht ignorieren. Keine Zustimmung gibt er an diesem Abend zu der Verbindung von Dorothea und Hermann. Nachdem er durch eine Anspielung auf Dorotheas (scheinbaren) Status als Magd und auf die Begierde seines Sohnes (deren Art er verkennt) eine gefährliche Krise ausgelöst hat, versucht er, eine Beschlußfassung zu umgehen, indem er sich zum Schlafzimmer wendet. Die Flucht mißlingt. Zu seinem zusätzlichen Ärger ist der abgetragene Schlafmantel im Rahmen der Gaben an den Flüchtlingstreck weiterverschenkt worden.
    Hermann will auf keinen Fall so altern wie der Vater. Das ist aber sein Los, wenn er an diesem Abend nicht mit größter Entschiedenheit um sein Glück ringt.
Goethes Kunstgriffe
    Einiges bleibt unerzählt. Das ist eine Technik Goethes. Man könnte statt der Namen der Musen, die in dem Epos die Kapitelüberschriften bilden, mit den Namen von Göttern und Göttinnen der Unterwelt als Überschriften eine zweite Fassung von Hermann und Dorothea schreiben. Darin wäre näher ausgeführt, warum Hermann sich von den Gleichaltrigen in der Schule, auch von Erbinnen der Stadt, die für Eheverbindungen in Betracht kommen, verspottet fühlt. ER HAT FURCHT , ZU VERSAGEN . Vielleicht gibt es über den Vater Berichte aus dessen früher Zeit, die seinen Status unterminieren. Seltsam, wie sich Lieschen, die Mutter, und der Vater bei einer Brandkatastrophe in den Trümmern, nicht weit vom Haus, das Lieschens Eltern bewohnten, kennenlernten. Jedenfalls fürchtet Hermann, bei seiner Werbung von Dorothea zurückgewiesen zu werden. Das ist

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