Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
Vom Netzwerk:
hergeben. Andernfalls behalten sie eine Reserve zurück.
    Jede Fesselung, jeder Zwang, jeder Raubbau an einer menschlichen Eigenschaft bringt einen Verlust mit sich. Auf der anderen Seite evoziert jede Not eine Gegenwehr, eine Erfindung, einen Ausweg.
    Dies ist das Phänomen der FREIHEIT , von dem Immanuel Kant, Adam Smith, Friedrich Schiller, Ralph Waldo Emerson, Thomas Jefferson oder Richard Rorty, also die Aufklärer diesseits und jenseits des Atlantiks, sprechen. Selbstregulierung ist eine Natureigenschaft (und Sitz des Eigensinns). Zwang ist demgegenüber nur so mächtig, wie er solche Zuarbeit einbindet. Wir Menschen sind als Gattung in der Evolution (gegen alle Wahrscheinlichkeit) übriggeblieben, weil wir dieses Prinzip der Selbstregulierung verinnerlicht haben.

    Die Natur der Zellen, die Haut, die Körper, das Hirn, die fünf Sinne, die darauf aufgebauten gesellschaftlichen Organe: Lieben, Wissen, Trauern, Erinnern, Familiensinn, Hunger nach Sinn, die gesellschaftlichen Augen, die kollektiven Aufmerksamkeiten – einiges davon gibt es wirklich; anderes davon existiert als nicht ausgeübtes Vermögen, als Protest oder Utopie.
    Marx spricht antizipatorisch davon, es seien »die Sinne und der Geist der anderen Menschen meine eigene Aneignung geworden. Außer diesen unmittelbaren Organen bilden sich daher gesellschaftliche Organe, in der Form der Gesellschaft, also z. B. die Tätigkeit unmittelbar in Gesellschaft mit anderen etc. ist ein Organ einer Lebensäußerung geworden und eine Weise der Aneignung des menschlichen Lebens ... darum sind die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andere Sinne ...«. 9
    »Denn nicht nur die 5 Sinne, sondern auch die sog. geistigen Sinne, die praktischen Sinne (wollen, lieben, etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne, wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlichte Natur. Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte ...« (S. 242). Verwandt ist die Metapher in MEW , Band 8, S. 201: »Fenster sind an einem Haus, was die 5 Sinne für den Kopf sind.«
    Es liegt auf der Hand, daß die gesellschaftlichen Organe (Lieben, Wissen usf.) relativ neueren Ursprungs, die originären Organe, zurück bis zu den Zellen, dagegen Produkte der gesamten Erd- und Gattungsgeschichte sind. Sie scheinen, gemessen an der hohen Beeinflußbarkeit der gesellschaftlichen Eigenschaften, eine sehr geringe Variation, selbst unter den einschneidenden Bedingungen fortgeschrittener Gesellschaften, aufzuweisen. Ob der jüngste Fortschritt, die kapitalistische Epoche, die Hirne, die Zellen ebenso verändert hat, wie das zum Beispiel für die Augen zutrifft, die jetzt dem »Sinn des Habens« folgen, oder für die Haut oder den Bauch, das kann man nicht sagen. Das, was die Zellen konstituiert, wie sie in der Umwelt vergiftet werden können; das, was das Hirn erarbeitet, unterliegt den Prägungen der gesellschaftlichen Natur. Wie sie in ihrer eigenen spezifischen Natur wirklich funktionieren, wie sie materiell aufgebaut sind, ist seit Tausenden von Jahren kaum verändert.

    Abb.: »Fenster sind an einem Haus, was die fünf Sinne für den Kopf sind.« Hier: »Augen ohne Lider.«
    Diese ältesten Sinne der menschlichen Natur ragen aber in die fortgeschrittenste Krise der Gesellschaft hinein, und ihre Natureigenschaften bestimmen diese Krise mit, verhalten sich als Widerspruch zu diesem Fortschritt. Gerade ihre Invariabilität, daß sie gewissermaßen Sockel und Pyramide zugleich bilden, bedeutet an der Spitze der Pyramide der Entwicklung ihre materielle Kraft. Wären sie variabler, könnten sie Kompromisse bilden. Die Gleichzeitigkeit und die Unvereinbarkeit von Altmensch und Neumensch in einer Person hat Naturhärte.

    Abb.: »Es geht um einen wichtigen Augenblick. Deshalb sind die Augen geschlossen.«
Das zänkische Gehirn
    Das komplizierteste Organ in der Natur des Menschen ist das Hirn. Es ist auffällig, daß menschliche Hirne überhaupt nicht in Form der sogenannten Rationalität arbeiten. Weder arbeiten sie von ihrer Natur oder Einrichtung her logisch noch teleologisch (zielbezogen), noch theologisch (mythenbildend), noch machen sie die gewaltigen Pausen wirklich, die sie scheinbar einlegen, wenn sie diszipliniert oder nach Arbeitsanweisung funktionieren. Sie befinden sich vielmehr, gerade wenn sie nach den Kriterien eines unternehmerisch geführten Betriebs »nichts tun«, auf höchster Arbeitsstufe, während

Weitere Kostenlose Bücher