Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
mißverständliche Verkürzung. Verständlicher wäre es , wenn man von der Beobachtung ausginge, wie ein lernendes und arbeitendes Wesen gattungsgeschichtlich und individualgeschichtlich seine Zeitansätze mit Hilfe seiner Umgebung in jedem Augenblick neu herstellt. Zeitansätze wie »Eigenzeit«, »Kinderzeit«, »lange Schwangerschaften«, »Uhrzeit«, »Geduld«, »langer Atem«, »Zeitreserve«, »Wiederholung«, »Trägheit«, »Erinnerungsvermögen« sind Formbestimmungen, an die alle Faktoren der menschlichen Reproduktion wiederum erst anknüpfen. In der Evolutionstheorie nennt man einen Mangelmutanten dasjenige Lebewesen, das in seinem Stoffwechsel nicht autonom, sondern auf die spezifische Assoziation mit anderen angewiesen ist.
Die Fingerspitzen, der Klammergriff
Abb.: »Flußpferd mit Jungem auf dem Rücken.« Zeichnung aus P. C. Mitchell, 1913, S. 185.
Wenn anzunehmen ist, daß die menschlichen Vorfahren sich wie das junge Flußpferd an ihre Mütter angeklammert haben, dann sind menschliche Säuglinge UNECHTE NESTFLÜCHTER . Hartmut Schneider schlägt deshalb auch zu Recht vor, daß man den Begriff Nestflüchter bei der Anwendung auf Säuger durch den Begriff Mutterfolger ersetzen solle, denn der Säugling bedarf der Orientierung hin zur Mutter von Geburt an. Ist aber dieses Anklammern entwicklungsgeschichtlich so bedeutend, dann ist die Entwicklung der menschlichen Hand (und deren Bedeutung für die Entwicklung des Hirns) erst in zweiter Linie ein Produkt der Geschichte der Arbeit, in erster Instanz ein Rudiment der Schutzsuche und der Mutterfolge, also des Anklammerns. Dies ist der ursprüngliche Boden, der zur Erfindung von Arbeit und Gesellschaft führt, eine Wurzel, die dann Bodenbearbeitung, Industrie, Bewußtsein prägen wird. Kein Arbeitsprozeß, keine einzelne Eigenschaft der Arbeitsvermögen wird plausibel in ihrer Gesamtbewegung zu erklären sein ohne die Rückbeziehung auf die ursprüngliche Schutzsuche, den zärtlichen Klammergriff.
Robo sapiens. Internet. Rückfall auf »einfache Lebenszeit«
Das Bedürfnis nach beschleunigter Kommunikation von Wissenschaftlern, die am ungewöhnlichen Projekt des Teilchenbeschleunigers am CERN in Genf arbeiteten, hat zur Erfindung des Internets geführt. Dieses Netz, einst ein Hilfsmittel für die Arbeit jenes kleinen Kreises von Experten, war der Motor für eine neuartige, sich explosiv entfaltende neue Öffentlichkeit. Man vergleiche die Bauweise von Fabriken des 18. und 19. Jahrhunderts, welche die Industrielle Revolution vorantrieben, mit der Architektur dieses Netzes. Menschen als Arbeiter in ihren Lebensläufen tauschen hier nicht Waren aus, sondern unmittelbar Teile ihrer Lebenszeit. DER BEGRIFF DER ARBEIT WANDELT SICH.
Wie man aber die Prozesse der Evolution falsch versteht, wenn man sie als eine »Arbeit zu höheren Stufen« ansieht (und nicht vielmehr beobachtet: die Natur bastelt ), so ist die Vorstellung irreführend, daß die menschliche Arbeit durch ihre Wandlungen und die ökonomischen Systeme der Moderne ihren elementaren Charakter verliert. Immer fällt sie nach ihren Flügen auf einfache Arbeit zurück . Dies beobachtet man in jeder Krise. Der Einsatz von Lebenszeit wirklicher Menschen bleibt das reale Element. Daß dies nicht erst im Augenblick der Insolvenz beachtet wird, sondern zu jedem Zeitpunkt, der davor liegt, ist ein entscheidender Beitrag zur FEINSTEUERUNG und ein Gegenmittel gegen die GEWALTSAMKEIT DER PROZESSE .
HEBAMMENKUNST
Es erweist sich, daß ein Kind im Mutterleib verdreht liegt, in der sog. Steißlage. Es wird bei der Geburt ersticken. Die Hebamme muß es im Mutterleib drehen, und sie tut das »durch Anwendung von Gewalt«. Aber keineswegs durch Kraftgriff, sondern durch Feingriff; entsprechend der Feingliedrigkeit und Lebendigkeit »des Gegenstandes« und mitten in dessen Situation. Es ist gar nicht möglich, daß die Hebamme gewaltsam, also mit ihren Händen, diese Arme so legt, daß sie kreuzweise vor der Brust liegen und die Geburtsöffnung passieren können. Ihr Griff provoziert die Eigenbewegung des Kindes. Solche Gewalt, wie sie die Hebamme professionell anwendet, unterscheidet sich von der Gewalt von Hämmern, Sicheln, Hacken oder Sägen.
Abb.: »Lesen. Erzählen.«
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Selbstregulierung als Natureigenschaft
Der Unterdrückung und den Zwängen steht entgegen, daß Menschen das Beste, was sie besitzen, ihre Arbeitsvermögen und ihre sachliche Hingabe, nur in Kooperation und freiwillig vollständig
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