Das Fuenfte Evangelium
mitgeführt worden wären.«
5
L osinski und Kessler hatten sich inzwischen auf das entgegengesetzte Ende des Forums zubewegt, vorbei an der Kurie und dem Bogen des Septimius Severus, hinter dem die Via Consolazione einen Bogen um das Kapitol schlägt. Kessler sollte sich später schwere Vorwürfe machen, gerade diesen Weg für ihre Unterhaltung gewählt zu haben, dabei war es Losinskis Idee.
Von der Straße her drang Verkehrslärm, der Losinskis Erklärungen störte, aber ausschloß, daß sie ungewollte Zuhörer hatten. So nahm der Pole seine Rede wieder auf und sagte: »Im Troß des Kaisers Titus müssen sich Leute befunden haben, die im Osten mit der neuen Bewegung konfrontiert wurden, deren Mitglieder sich Christen nannten. Für die Römer waren diese Christiani nichts weiter als Anhänger einer der zahllosen Sekten, die aus dem Orient kamen; aber um den Mann, der diese Sekte populär gemacht hatte, rankten sich so viele Sagen und Legenden, daß der Sekte die Menschen scharenweise zuliefen. Der Mann behauptete allen Ernstes, Sohn eines unbekannten Gottes zu sein, und er lieferte Beweise, indem er Dinge tat, deren sich nicht einmal Magier zu rühmen wagten: Er zauberte aus fünf Broten und zwei Fischen Nahrung für fünftausend Männer – Frauen und Kinder nicht gerechnet –, er ließ Wasser zu Wein werden und erweckte Tote zum Leben. Als die Römer ihn wegen Gotteslästerung verurteilten, wurde er von den Juden getötet, und dann geschah etwas, was die Menschen jener Zeit vollends in Verwirrung stürzte. Von den Anhängern dieses Mannes wurde behauptet, sie hätten mit eigenen Augen gesehen, daß ihr Meister von den Toten auferstanden sei.«
»Halt, Bruder«, warf Kessler ein, »Sie reden wie ein Ketzer. Was Sie tun, ist nicht recht.«
Der Einwand machte Losinski wütend, er legte seine Stirn in Falten und entgegnete: »Vielleicht sollten Sie mich erst zu Ende hören, Bruder, danach ist Ihnen jede Meinungsäußerung freigestellt.«
Sie standen sich jetzt in kurzem Abstand gegenüber, beinahe wie Gegner, die bereit sind, ihre Kräfte zu messen, Losinski dem Forum zugewandt, Kessler mit dem Blick zum Kapitol. Losinski blickte kalt und siegesgewiß, Kessler kritisch, aber durch das forsche Auftreten des Koadjutors verunsichert. In dieser Haltung begann Losinski aufs neue: »Vor allem durch den missionarischen Eifer eines Zeltmachers aus Tarsos namens Paulus, der seinem Meister nie begegnet ist, erhielt die Bewegung starken Zulauf, daß sie allmählich zu einer ernsthaften Bedrohung für die römischen Staatsgötter wurde. Im ganzen Reich bildeten sich nämlich Gemeinden mit Anhängern dieser Sekte; nicht nur in Palästina, in Kleinasien und Griechenland, sogar in Rom, wo die Götter zu Hause waren, hatten die Christen ihre Anhänger. Ja, diese Leute bemächtigten sich eines missionarischen Eifers, wie ihn noch keine Religion an den Tag gelegt hatte. Und weil sie sich von allen, die nicht ihres Glaubens waren, abkapselten und weil sie bei ihren geheimen Zusammenkünften fremdartige Riten praktizierten, kamen sie bald ins Gerede im ganzen Römischen Reich. In ihrem Fanatismus gingen diese Leute soweit, daß sie ihre vorgefaßte Meinung sogar gegen Leute verteidigten, die den wundertätigen Mann aus Nazareth von Angesicht gekannt hatten. Und als einer kam und behauptete, das mit dem Jesus damals, das war alles ganz anders, ich muß es wissen, besser als jeder andere, da drohten sie, diesen Mann zu steinigen, und dieser Mann entging dem Tod nur durch die Flucht. Er floh nach Ägypten und schrieb alles auf, was er erlebt hatte.«
»Mein Gott«, stammelte Kessler und blickte auf die Fotografie. Immer mehr Dinge ergaben mit einem Mal einen Sinn. Er war nicht so naiv zu glauben, daß Losinski sich all das aus den Fingern gesogen hätte. Wenn er je einen ernsthaften Menschen kennengelernt hatte, dann war es der Koadjutor aus Polen. Dieser Mann prüfte jeden Sachverhalt zweimal, bevor er ihn als Tatsache gelten ließ. Kessler ahnte, daß der im nächsten Augenblick einen Trumpf aus dem Ärmel ziehen würde, der ihn, Kessler, sprachlos machte. Er schwieg, aber sein Kopf war zum Zerreißen gespannt.
Mit einem Grinsen um die Mundwinkel, das einen Sadisten auszeichnet, genoß Losinski den Augenblick, bevor er endlich fortfuhr: »Was dieser Mann zu berichten wußte, nahmen andere mit Staunen auf; aber wo immer sie den Versuch unternahmen, dieses öffentlich zu verkünden, wurden sie von den Christen mundtot gemacht, sie
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