Das Fuenfte Evangelium
wurden vertrieben oder getötet oder unter Drohungen eingeschüchtert. Deshalb bildeten sie eine Gegenbewegung gegen die Christen, an der sich bedeutsame Männer beteiligten. Sie erkannten, daß nichts den Zulauf zu einer Sekte brechen kann, die sich aufgrund jüngster Zeitumstände im Aufwind befindet – nicht die Lüge und nicht die Wahrheit. Deshalb verschlüsselten sie ihr Wissen für die Nachwelt auf unterschiedliche Weise. Der Künstler, der den Titus-Bogen mit Reliefs versah, war entweder selbst ein Mitglied dieser Gegenbewegung, oder er wurde bestochen, gerade diese Darstellung zu wählen, ohne deren Bedeutung zu kennen. Als Pius VII. die Wortfolge in dem Relief entdeckte, da muß seine Bestürzung groß gewesen sein; denn im Geheimarchiv des Vatikans ruht eine mit dem Siegel des jeweiligen Papstes versiegelte Kassette, von der es heißt, daß die von jedem Nachfolger auf dem Stuhle Petri nur einmal geöffnet und wieder verschlossen und versiegelt wird. Päpste, die diese Kassette geöffnet hätten, sollen ohnmächtig und wie vom Blitz getroffen zusammengebrochen sein, oder ihr Charakter habe sich von diesem Augenblick an auf seltsame Weise verändert …«
Wie gebannt hing Kessler an Losinskis Lippen. Er sah, wie sie plötzlich ihre Bewegung einstellten, wie sich sein Mund zu einer Fratze verzerrte und ein Schwall Blut auf der Zunge hervortrat, er sah, wie der Blutstrom über Losinskis Kinn schoß und sein Hemd dunkel färbte, er sah, wie er die Augen langsam zum Himmel drehte und, ohne einen Laut von sich zu geben, wie im Zeitlupenfilm einknickte. Gleichzeitig spürte Kessler einen peitschenden Schmerz im rechten Oberarm.
Erst jetzt drang der Lärm, den ein Maschinengewehr verursachte, an sein Ohr. Er kam von der höher gelegenen Via Consolazione, wo er im Taumeln ein mit zwei Männern besetztes Motorrad wahrnahm und ein grelles Mündungsfeuer. Dann verließ ihn das Bewußtsein.
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A ls Kessler sitzend an eine Mauer gelehnt zu sich kam, waren Sanitäter bemüht, einen Verband um seinen Oberarm zu legen. Der eine, ein junger Mann mit kurzgeschorenem Schädel, sagte, er könne von Glück reden, daß er überlebt habe, den da – und dabei deutete er auf Losinski, der reglos vor ihm auf dem Boden lag – habe es erwischt. Schuß in den Hinterkopf.
Erst Stunden später begriff Kessler, was an diesem Tag auf dem Forum Romanum eigentlich vorgefallen und daß Losinski Opfer eines Attentats geworden war, und er stellte sich immer wieder die eine Frage: War es Absicht oder Zufall, daß er überlebte?
Wie immer, wenn die italienische Polizei im dunkeln tappt, war ein Schuldiger schnell gefunden. Dahinter, so hieß es, stecke die Mafia, und Kessler mußte sich endlosen Verhören unterziehen, wobei ihm sein geistlicher Stand in keiner Weise zu Hilfe kam, weil, wie man weiß, die Soutane dem organisierten Verbrechen nicht selten als Tarnung dient. Als schließlich Kesslers geistliche Identität geklärt und Dr. Stepan Losinski auf dem Jesuitenfriedhof beerdigt war, begannen die Verhöre erneut, weil ein sprachen- und schreibkundiger Untersuchungsbeamter eine verdächtige Namensgleichheit zwischen Kessler und einem Capo di tutti Capi , also einem Boß der Bosse namens Bobby Cesslero, festgestellt hatte, der seit drei Jahren steckbrieflich gesucht wurde, ohne daß die Polizei ein Foto von ihm besaß. Cesslero, genannt ›il Naso – die Nase‹, zog von Italien über Frankreich bis nach Amerika eine Duftspur hinter sich her, indem er die teuersten Parfüms der Welt fälschte und waggonweise verkaufte; aber wie Cesslero aussah, wußte niemand.
Es dauerte deshalb gut zwei Wochen, bis dieser Verdacht aus dem Weg geräumt werden konnte und Kessler sich in der Lage sah, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Aber Kessler war ein anderer geworden. Das Attentat, von dem nur eine vier Zentimeter lange Naht an seinem Oberarm zurückgeblieben war, hatte ihn, hatte sein Denken verändert. Er ertappte sich mehr als einmal, daß er dachte, wie Losinski gedacht haben mochte, daß er Zusammenhänge kombinierte, wie sie Losinski verknüpft haben könnte; ja, er bemerkte zu seinem Schrecken, daß er grinste wie Losinski, wenn Textstellen aus dem Pergament diskutiert wurden.
Natürlich machte sich Kessler Gedanken (eine schwache Formulierung für endlose schlaflose Nächte), wer ein Interesse gehabt haben konnte, Losinski oder ihn oder beide zu beseitigen, und dabei entdeckte er sich als Mitwisser, als einen, der für irgendwelche
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