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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Leute zuviel wußte, obwohl er doch nur die halbe Wahrheit kannte. In einer dieser schlaflosen Nächte in seiner Klosterkammer zog er sein Sakko hervor, und zum wiederholten Male betrachtete er den gebräunten Fetzen am oberen rechten Ärmel, den der Einschuß gerissen hatte, und zum wiederholten Male kam ihm in den Sinn, daß es eine Fügung des Schicksals gewesen sein mußte, der er sein Überleben verdankte. Die Absicht der Attentäter, so dachte er, war es jedenfalls nicht, und daraus folgerte Kessler, daß er sich in acht nehmen mußte – ein zweiter Versuch würde nicht fehlschlagen.
    Kessler mußte annehmen, daß jene, die ihm nach dem Leben trachteten, davon ausgingen, er sei von Losinski in das Geheimnis eingeweiht worden. Vielleicht hätte er in Kenntnis der ganzen Wahrheit keine ruhige Minute mehr zugebracht? Von Zweifeln geplagt wurde Kessler, was sich in dem geheimen Treff am Campo dei Fiori abgespielt haben mochte. Er glaubte jetzt fest daran, daß Losinski in dem alten Haus keineswegs eine Sünde wider das sechste Gebot begangen hatte, wie es ursprünglich seine Ahnung gewesen war, vielmehr mußten wohl seine nächtlichen Streifzüge in das wenig vornehme Viertel in Zusammenhang gestanden haben mit dieser Geschichte.
    Und während er so überlegte und über den zerfetzten Ärmel seines Sakkos strich, da fühlte seine Hand etwas in der Innentasche des Kleidungsstücks – Losinskis Fotografie, geknickt und zusammengefaltet. Einer der Sanitäter mußte sie ihm wohl auf dem Forum, in der Meinung, sie gehöre ihm, in die Tasche geschoben haben. Zwar war das Bild zerknüllt wie eine Einkaufstüte, aber dennoch konnte man die Einzelheiten erkennen, und Kessler begann instinktiv, die Symbole der Kriegsbeute untereinander auf einen Zettel zu schreiben, zuerst in seiner Muttersprache, dann daneben auf lateinisch.
    Das Ergebnis sah etwa so aus:
Badescheffel
–  Balnea
Lamm 
–  Agnus
Baumzweig 
–  Ramus
Elch 
–  Alces
Kriegsfahne 
–  Bellicum
Zweigespann 
–  Bigae
Ente 
–  Anas
Ähre 
–  Spica
    Dann las er die Anfangsbuchstaben der lateinischen Begriffe: BARABBAS.
    »Großer Gott!« entfuhr es Kessler. Diesem Namen war er doch in einem Textfragment des fünften Evangeliums begegnet: Barabbas! Bei der Heiligen Dreieinigkeit, welches Mysterium verbarg sich hinter diesem Namen?
7
    A m folgenden Tag war Kessler in der Gregoriana nur halb bei der Sache. Seit dem Attentat machte er einen fahrigen Eindruck; auch wenn er es nicht eingestehen wollte, er hatte Angst. Manzoni schien seit Losinskis Tod verändert. Gewiß, er hatte den Polen nie leiden gemocht, aber die christliche Moral hätte geboten, mit einem Gefühl des Mitleids über ihn zu sprechen; doch Manzoni sah in der Ermordung Losinskis eher ein organisatorisches Problem in bezug auf die Arbeit an dem koptischen Pergament.
    Kessler schien es, als habe Manzoni ihm mit voller Absicht ein Fragment übertragen, das dem Bearbeiter aufgrund seines lückenhaften Zustandes kaum eine Chance ließ. Nicht größer als eine Handfläche, war es durchlöchert wie ein von Motten zerfressener Stoffetzen. Nicht ein Wort fügte sich an ein anderes – ein aussichtsloses Unternehmen.
    Mehrmals am Tag begegneten sich die Blicke der beiden Männer, ohne daß einer ein Wort fand. Es hatte den Anschein, als würden sie stillschweigend ihre Gegnerschaft akzeptieren. Und während Kessler sich der Betrachtung seiner Hände hingab, überlegte er, wie er Manzoni beikommen konnte. Manzoni, der seine Hauptaufgabe darin sah, zwischen den Reihen der Übersetzer hindurchzugehen wie ein Schulmeister und hier und da über eine Textstelle zu diskutieren, hatte jedesmal, wenn er neben Kessler hintrat, eine gewisse Schadenfreude in seinem Blick, die dem anderen nicht entgehen konnte und die ihn reizte bis aufs Blut.
    Und auf einmal – er hatte es gar nicht gewollt, aber es war wohl der Ausdruck seiner Wut – rief Kessler über zwei, drei Tischreihen hinweg Manzoni zu: »Sagen Sie, Professore, wer ist eigentlich dieser Barabbas?«
    Im Saal wurde es totenstill. Alle Augen richteten sich auf Manzoni, der, als wollte er sich auf den vorlauten Rufer werfen, Kessler entgegeneilte mit dunkelgerötetem Kopf, sich niederbeugte und fassungslos auf das durchlöcherte Pergamentstück starrte. Die Frage hing im Raum wie ein gotteslästernder Satz von Karl Marx, dabei hatte Kessler doch nur eine Frage gestellt.
    Erst musterte Manzoni das Pergament, dann prüfte er Kesslers

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