Das Fuenfte Evangelium
gefunden, meist Urkunden ohne Bedeutung, aber auch Bibeltexte und gnostische Schriften. Bei gutem Erhaltungszustand werden für solche Pergamente tausend Mark bezahlt, aber bei diesem Stück handelt es sich, soweit ich das erkennen kann, um kein erstklassiges Objekt. Wissen Sie, Frau –«
»Seydlitz!« ergänzte Anne aufgeregt.
»Wissen Sie, Frau Seydlitz, es gibt nicht viele Sammler für koptische Manuskripte, und Museen und Bibliotheken sind nur an ganzen Rollen, vor allem an zusammenhängenden Texten interessiert, welche als Grundlage für wissenschaftliche Forschungen dienen.«
Anne nickte: »Ich verstehe. Sie können sich also nicht vorstellen, daß dieses Pergament – wieder vorausgesetzt, es ist auch echt – für irgendwelche Leute ein Objekt besonderer Begierde sein könnte?«
Rauschenbach sah Anne ins Gesicht. Die seltsame Formulierung schien ihn zu beeindrucken. Er versuchte ein Lächeln. »Wer will schon wissen, was für wen zum Objekt der Begierde werden kann. Tausend Mark«, meinte er schließlich, während er den Kopf schüttelte, »mehr würde ich dafür nicht ausgeben.«
Anne überlegte, wie sie dem anderen die Bedeutung dieses Pergaments nahebringen konnte, ohne sich selbst zu verraten. Sie hätte Rauschenbach natürlich alles erzählen können, was bisher passiert war, aber sie zweifelte, ob er ihr überhaupt glauben würde. Und außerdem fehlte es ihr an Vertrauen, und deshalb bat sie, er möge ihr den Text so genau wie möglich übersetzen oder zumindest inhaltlich wiedergeben.
Da holte Rauschenbach unter dem Tisch eine Flasche hervor und goß sich ein gebauchtes Glas voll. »Wollen Sie auch einen Schluck?« fragte er eher geistesabwesend und in der Erwartung, daß Anne ablehnen würde, und begann dann, während seine Rechte fahrige Bewegungen über der Fotografie vollführte, eine lange Erklärung über die Schwierigkeiten der Entschlüsselung solcher alten Texte; eine Kopie, und noch dazu eine schlechte, mache die Aufgabe noch viel schwieriger. Anne war unsicher, ob Rauschenbach nur zu faul war und mit einem oberflächlichen Gutachten schneller Geld machen wollte oder ob er einen anderen Grund hatte, sich nicht mit dem Text auseinanderzusetzen.
Als ob der Rotwein seine Sinne schärfte, schien Rauschenbach ihre Gedanken zu erraten, und er sagte in das Blatt versunken: »Sie glauben natürlich, ich wollte mir nur die Arbeit leichtmachen, aber da kann ich Sie beruhigen, ich werde Ihnen eine Übersetzung liefern, soweit sie bei diesem Material möglich ist. Nur –« und dabei schüttelte er seinen ausgestreckten Zeigefinger – »versprechen Sie sich nicht allzuviel davon.«
Anne sah Rauschenbach an.
»Glauben Sie mir«, beteuerte dieser, »es hat schon ganze Codizes aus koptischer Zeit gegeben, die keiner haben wollte. Ich will sagen, bei Funden dieser Art bedarf es nicht nur der Entdeckung, sondern auch des wissenschaftlichen Einsatzes des Entdeckers, der alles dokumentiert und in einen historischen Zusammenhang stellt. Wissen Sie, ein Pergament oder ein Papyrus ist keine Mumie, keine Skulptur und keine Goldmaske, die die Leute aufregt. Eine der bedeutendsten Entdeckungen in dieser Hinsicht, der sogenannte Codex Jung, irrte jahrelang durch die Welt, bevor er das Interesse der Wissenschaft fand. Das ist eine unglaubliche Geschichte … aber ich will Sie nicht langweilen.«
»O nein«, erwiderte Anne, »Sie langweilen mich überhaupt nicht.« Dabei konnte sie sich des Eindruckes nicht erwehren, daß Rauschenbach sich mühte, die Bedeutung ihres Pergamentes herunterzuspielen. Und während dieser sein Glas nachfüllte und zu reden begann, dachte Anne nach, welchen Grund Rauschenbach für sein Verhalten haben könnte.
»Die Entdeckung des Codex Jung«, holte Rauschenbach aus, »geht zurück auf das Jahr 1945. Damals entdeckten ägyptische Fellachen in Tonkrügen in einem alten Grab fünfzehn koptische Handschriften, Bücher mit angemoderten Ledereinbänden, für die sich kein Mensch zu interessieren schien. Sie verkauften sie für ein paar Piaster nach Kairo, wo eines dieser Bücher in ein Museum kam, ein weiteres zu einem Antiquitätenhändler. Elf andere – zwei waren inzwischen verheizt worden – verschwanden auf Nimmerwiedersehen in irgendwelchen dunklen Kanälen. Man hörte nur noch gerüchteweise von ihnen. Es mag verschiedene Gründe für das Desinteresse an diesen umfangreichen Handschriften gegeben haben, aber ein Grund war zweifellos der gnostische Inhalt dieser
Weitere Kostenlose Bücher