Das Fünfte Geheimnis
Übelwerden, einen Druck hinter den Augäpfeln. Bird hielt sie noch fester umschlungen. Es ist auch in deiner Berührung, wollte Madrone sagen. Dieselbe Wärme, derselbe Frieden, dieser kleine, sich windende Wurm der Angst, der dann Ruhe gibt.
»Und dann was, Liebes?«
Warum stocherte er in dieser Wunde? Fragte sie ihn, wie es ihm erging, als Brigid sich die Lungen aus dem Hals hustete während der großen Epidemie? Oder wie es war, nach dem Aufruhr seinen Vater erschossen auf der Straße liegen zu sehen? Sprach Nita über den Tag, als sie von der Universität nach Hause kam und ihre Eltern fand, die nach Atem rangen und kurz darauf starben? Nein, sie waren alle ein Haufen Waisen, bis auf Sage, dessen Vater noch gesund und munter in den Bergen lebte. Sie waren alle hilflos zurückgelassen worden. Es war besser, nicht darüber zu lamentieren.
Er klopfte ihr leicht auf den Rücken.
»Was passierte?«
»Dann erinnere ich mich an diesen kahlen Raum in dem kleinen Haus, wo es nichts zu essen gab, aber ich konnte mich nicht beklagen, alle waren dort so ängstlich. Ich sah sie nie wieder, aber irgendwie wußte ich, daß sie tot war.«
Für einen Moment zog er sie näher zu sich heran, aber sie entzog sich ihm. »Dann kam Rio«, fuhr sie schnell fort. »Ich hatte vorher noch nie einen Mann gesehen, der wie er aussah, mit seinen weißen, buschigen Haaren und Augenbrauen und einem großen, weißen Bart. Wie die Bilder des Weihnachtsmannes in einem meiner Bücher. Obwohl nicht ganz so dick. Und darum vertraute ich ihm. Ich dachte, er würde mich zum Nordpol mitnehmen.«
Bird lachte. »War es eine große Enttäuschung, stattdessen hier gelandet zu sein?«
»Ein bißchen schon. Ich wollte die Rentiere sehen.«
»Ich erinnere mich, als du ankamst, dieser erste Abend, als wir alle zum Abendessen herüberkamen, um dich kennenzulernen, meine Mutter, mein Vater, Marley und ich. Wie alt warst du? Sechs? Sieben? Du warst so klein und hübsch und so traurig.«
»Du warst nett zu mir«, sagte Madrone.
»Du und Marley, ihr seid nach draußen gegangen, um Ball zu spielen, und ihr batet mich mitzukommen. Und du sprachst spanisch mit mir, weil ich Englisch nicht gewöhnt war. Dein Akzent klang aber recht komisch.«
»Ich war total in dich verliebt«, sagte Bird. »Du hast in mir einen instinktiven, männlichen Beschützertrieb erwachen lassen.«
Madrone versteifte sich abrupt. »Nun, den kannst du jetzt zügeln«, schnappte sie zurück. »Wir sind nicht mehr sieben Jahre alt.«
Er zog sich von ihr zurück. Woher nur kam das jetzt, fragte er sich. Gerade waren wir uns so nahe, aber sie ist wie eine verwundete Katze, die kratzt, wenn man ihr zu nahe kommt. Und bist du nicht genauso, fragte er sich. Wir könnten uns jetzt streiten, dachte er, aber stattdessen grinste er. »Aber ich bin noch immer total verliebt in dich.«
Sie streckte ihm die Zunge heraus, und er hielt sie zwischen seinen Lippen fest, schlang seine Arme um sie und küßte sie zärtlich.
Hier war er wieder, der Frieden, die Sicherheit, die vor so langer Zeit zerbrochen waren, dachte Madrone. In seinen Armen. Ich sollte mich von ihm ein wenig beschützen lassen, aufhören, ihn so herumreden zu lassen und auch meine eigene Angst vor dem, was kommen könnte, fallen lassen. Aber die Angst blieb.
✳✳✳
Die Samhain-Nacht war Madrones 29. Geburtstag, und sie verbrachten ihn mit Kochen. Durch Familientraditionen überliefert, durfte sich das Geburtstagskind ein Lieblingsessen wünschen. Weil Halloween das Fest war, in dem die Ahnen zurückkehrten, verbanden sie beide Feste und kochten jeweils ein Essen, das auch den Ahnen gefallen hätte. Das Lieblingsessen von Madrone war Mole, das Maya vor langer Zeit in Mexiko zu kochen gelernt hatte. Man brauchte vierundzwanzig Gewürze und sieben verschiedene Arten Chili, und die Vorbereitungen dauerten drei Tage. »Das muß irgendeinem der Toten gefallen«, sagte Madrone.
»Rio mochte es immer«, fügte Maya hinzu, »obwohl alle seine Ahnen Iren oder Cockneys waren. Ich werde noch ein bißchen Kartoffelmus dazu machen.«
Madrone bestand darauf, auch zu kochen, obwohl es ihr Geburtstag war. Sie machte Pupusas, so wie es auf Guadeloupe zubereitet wurde. Damit wollte sie den Geist des Vaters, den sie niemals gekannt hatte, versöhnlich stimmen. Holybear buk mexikanische Kuchen, Nita machte Reis und Bohnen und Sage komponierte ein Obstdessert mit Früchtekuchen, Erdbeermarmelade und echter Schlagsahne.
»Was soll ich
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