Das Fünfte Geheimnis
die Autorität und Vertrauen ausstrahlte, näherte sich Madrone. Die Augen der Frau waren klar und fest über einer klaffenden Wunde, die sich von ihren Nasenlöchern bis zum Kinn auftat. Madrone bemerkte eine ziemlich große Gaumenspalte. Sie fühlte Wut im Bauch aufkommen, denn dies hätte korrigiert werden können als die Frau ein kleines Kind war. Und so vieles, das sie sah, hätte korrigiert werden können, doch es war nicht geschehen.
»Ich bin Rhea«, sagte die Frau in einer sonoren Stimme, ein wenig undeutlich.
»Bird hat mir von dir erzählt«, sagte Madrone. »Er hat mich geschickt. Ich bin Madrone. Ich bin eine Heilerin.«
»Willkommen.«
Sie fand Unterkunft in Rheas' Haus – eine Matte auf dem Fußboden, niedrig aber bequem, vielleicht dieselbe, auf der Bird geschlafen hatte. Madrone fühlte sich ihm plötzlich sehr nahe, als sie seine Route zurückverfolgte. Wo war er jetzt? War er nach Sams Eingriff wieder geheilt? Lief er jetzt besser, weniger schmerzhaft? Wenn sie ihre Augen schloß und sich ihm zuwandte... aber Rhea rief zum Abendessen.
Ein Tisch war gedeckt mit Suppentöpfen, Gemüse und Platten mit gebratenem Fisch, und die Leute nahmen sich, was sie wollten. Isis kam heran und gab Madrone einen gefüllten Teller.
»Genieß' dein Essen«, sagte sie. »Dies ist das letzte vernünftige Essen, das wir in nächster Zeit sehen werden.«
Eine Menge freundlicher Leute hatte sich in Rheas Zimmer versammelt, sie standen bis hinaus auf die Veranda, von wo man die Bucht überblicken konnte. Einige von ihnen sahen aus wie Monster, aber viele waren auch gut gewachsene junge Männer, einige gekleidet in die Lumpen einer Uniform.
»Wir sind kürzlich mit Deserteuren überflutet worden«, sagte Rhea, die neben Madrone stand. »Keiner möchte mehr in diesem neuen Krieg kämpfen, der kommen wird.«
»Krieg gegen den Norden?« fragte Madrone ruhig.
»Das scheint der Plan zu sein. Es gibt aber viele Krankheiten unter den Jungs. Wenn sie ein oder zwei Wochen ohne diese Booster sind, fangen sie an zu husten und zu erbrechen und alles was am einen Ende hineingeht, kommt am anderen gleich wieder heraus.«
»Vielleicht kann ich helfen.«
»Das hoffe ich sehr.«
»Darum bin ich ja hier«, sagte Madrone. »Um in jeder möglichen Hinsicht zu helfen.«
»Was ist mit uns?« sagte Rhea während sie Madrones Ellbogen berührte und in ihre Augen sah. »Kannst du uns auch helfen?«
Es fällt ihr schwer, das zu fragen, dachte Madrone. Sie ist eine stolze Frau. Sie antwortete ihr mit leiser und freundlicher Stimme.
»Es tut mir leid, Rhea. Ich kann euch am Leben erhalten, aber ich kann keine Gliedmaßen wachsen lassen oder dein Gesicht verändern. Ich bin eine Heilerin, aber kein Wunderdoktor.«
»Dein Freund hat ein paar Wunder vollbracht, wie ich gehört habe.«
»Bird?« Madrone lächelte, und klopfte leise Rheas Hand. »Ja, weißt du, er ist ein Wunderdoktor, aber kein Heiler.«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, daß uns manchmal in Situationen, in denen es auf Leben und Tod ankommt, Talente zuwachsen, die über das hinausgehen, was wir normalerweise tun können. Wunder passieren. Aber Heiler zu sein, bedeutet zu lernen, weniger Wunder, aber diese öfter und regelmäßiger geschehen zu lassen.«
»Wenn du irgendwas tun kannst, was dem nahe kommt, was Bird tat, und dies regelmäßig, dann wird es uns schon gut gehen«, sagte ein junger Mann, der auf sie zukam. Er hatte eine schlanke Statur, mehr wie ein Junge, mit dunklem Haar, das er aus seiner Stirn streifte, als er Madrone mit hellen, blauen Augen ansah. »Also dich hat Bird geschickt. Dann hat er also seine Leute gefunden?«
»Ja, das hat er.« Madrone lächelte.
»Er wollte selbst zurückkommen, aber seine Beine waren in einem sehr schlechten Zustand.«
»Ich weiß, ich war mit ihm im Knast. Heiße Littlejohn.« Er streckte seine Hand aus, und Madrone nahm sie.
»Er sprach von dir.«
»Klar hat er das.«
»Er sagte, wenn ich dich treffe, soll ich dich ganz lieb grüßen.«
»Das sagte er, wirklich?«
»Ja, das sagte er.«
Littlejohn stand nur da, in Gedanken versunken, aber ausdruckslos.
Irgendwie fühlte Madrone, daß sie Freunde sein würden. Sie waren durch Bird miteinander verbunden, der es von hier aus bis nach Hause geschafft hatte, trotz aller Gefahren. Das war ein wahres Wunder. Und sicher würden weitere folgen.
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Der Raum war voller kranker, junger Männer, die sich auf einem Notlager aus alten Decken hin und her
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