Das Fünfte Geheimnis
gemeinsam ausübst? Kann ich das auch lernen?«
Melissa schüttelte langsam den Kopf. »Das kommt erst nach der großen Initation, und es ist auch nicht ganz ungefährlich. Es geht eigentlich gegen die Natur unserer kleinen Schwestern. Ihre ureigenste Natur ist, kranke und verwundete Mitschwestern gleich zu töten, um das Einschleppen von Krankheiten in den Bienenstock zu verhindern.«
»Und wieso geht das gegen ihre ureigenste Natur? Du hast mir doch gezeigt, daß sie auch verwundete Menschen pflegen.«
»Das liegt an unseren Kommunikations-Möglichkeiten. Glaube auch niemals, daß du die kleinen Schwestern unter Kontrolle hast. Sie sind wild, sie sind ein Stück Natur. Sie verletzen auch dich, wenn sie es wollen. Und sie werden dich auch nicht immer genau verstehen. Alles, was du in diesen letzten Tagen gelernt hast, ist nur ein ganz kleiner Anfang.«
»Woher weißt du das alles, wie hast du das gelernt?«, fragte Madrone staunend.
»Die alte Dame lehrte mich das, sie lehrte uns alle das.«
»Und wer ist diese alte Dame?«
»In der Zeit der großen Krankheiten und der Hungersnot, als die Stewards an die Macht kamen, floh sie in diese Canyons, um hier im Verborgenen und in Ruhe zu leben. Sie war eine Hexe. Sie legte einen Garten an und pflegte Bienenstöcke. Als ihre Freunde und Familienmitglieder in der Epidemie einer nach dem anderen starben, sprach sie mehr und mehr mit den Bienen. Sie verstand sie immer besser und besser, und langsam teilten ihr die Bienen auch ihre Geheimnisse mit. Sie kam hinter das Geheimnis, den Bienennektar zu brauen, der Menschen überhaupt erst dazu befähigt, Bienen zu verstehen. Sie hat uns alles beigebracht.«
»Lebt sie noch? Kann ich sie einmal kennenlernen?«
Melissa schwieg. Madrone lehnte sich zurück, plötzlich schrecklich müde und tief verstört. Sonnenlicht strahlte flirrend durch die Blätter der Sykamoren, Sonnenlicht blitzte durch ihre halb geschlossenen Augenlider.
»Ruhe dich ein bißchen aus«, hörte sie Melissa sagen. »ich bringe dir noch Brot, und später üben wir nochmals.«
Madrone döste vor sich hin. In ihrem Traum sah sie Lily. Eine alte Frau hob ihre Tasse zur Stirn hoch, und dort schäumte ein Wasserfall. Sie hielt Madrone die Tasse hin, bot ihr zu trinken an. Madrone tauchte ihr Gesicht ins kühle Wasser, schleckte es mit der Zunge wie ein Tier. Das Wasser schmeckte nach Angst und Gefahr.
Kapitel 17
Es schien Maya, daß die ganze City zur Ratssitzung gekommen war. Sie erkannte viele Leute. Einige hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen, jedenfalls nicht mehr seit sie aufgehört hatte, zu den Versammlungen der Schriftsteller-Gilde zu gehen. Aber die paar Bekannten gingen unter in der Masse von Fremden, die überall standen, sich in den Ecken drängten, ja praktisch auf dem Schoß der Figuren der Geheimen Stimmen saßen. Spannung hing in der Luft, und diese Spannung war von allen Gesichtern abzulesen. Die San Franciscans hatten sich schon immer gern kostümiert, stellte Maya bei sich fest. Nun war Kleidung schon fast zum Erkennungszeichen geworden, verriet Zugehörigkeit und Identität. Die Menschen von der Nord-City bevorzugten Jacken mit hohen Kragen aus sanftem Brokat, mit chrysanthemen-gemusterter Seide oder glatte Hosen aus jenem blauen Drillichstoff, der entfernt an das China der siebziger Jahre erinnerte. Die Nachbarn aus dem Black Dragon House bevorzugten Ponchos und hellglänzende, bestickte Baumwollhemden. Die Techniker trugen schlichte Jumper in einfachen Farben. Die Delegation von den Tribal Lands flußaufwärts prunkte mit ihrer traditionellen Tracht, ergänzt durch Federmäntel und korbähnliche Hüte. Dagegen waren die Fairy Men in langwallende Tücher und juwelenübersäte Kostüme gehüllt. Unzählige Einzelheiten boten ein buntes Bild: Eine Frau hatte fünf Ringe an jedem Ohr baumeln, ein hochgewachsener schlanker Mann trug eine prachtvolle, mit Knöpfen verzierte graugemusterte Weste, eine große Person undefinierbaren Geschlechts trug ein enges Trikot und ein Tutu. Und die Frisuren: Da gab es kahlgeschorene Köpfe, Haare waren zu Mustern gestutzt und geschnitten, zu einfachen oder kunstvollen Zöpfen geflochten, in dicke Flechten gelegt, zu Korkenzieherlocken gekräuselt oder wallten lose herunter. Maya selbst trug Schwarz, wie eine alte Frau. Eine Kleidung, schlicht und einfach, dachte sie, und von unaufdringlicher Würde.
In einer Ecke des Raumes saßen Gruppen der Waldgemeinden aus dem Osten und Norden. Sie trugen
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