Das Fünfte Geheimnis
sie?«
»Diese Kraft ist keine Waffe, sondern eine Metapher.«
»Lügner! Armeen kann man nicht mit Metaphern schlagen!«
»Sie hat das nicht wörtlich gemeint. Sie meinte – geistige Kräfte.«
»Die Kraft ist ein Geist?«
»Ja, es ist unser Geist.«
»Wie benützt ihr diese dämonischen Kräfte? Wie kommandiert ihr sie?«
Sein Herz schmerzte. Bird wünschte sich nur noch eine Kugel mittenhinein.
»Keine dämonischen Kräfte, geistige Kräfte.«
»Armeen werden nicht von geistigen Kräften vernichtet. Was ist das für eine Waffe, rede!«
»Ich kann nicht!«
»Du wirst schon merken, was du kannst.«
»Ich meine, es ist nicht, was ihr denkt.«
Eine schöne schnelle Kugel würde alles beenden, so wie das Leben seines Vaters geendet hatte, so wie er selbst einen Mann zum Schweigen gebracht hatte. Aber er mußte überlegen, was er sagen sollte. Die Wahrheit zählte nicht, weil sie sie nicht glaubten. Ich muß ihnen erzählen, was sie hören wollen. Ein Funke Hoffnung keimte auf, er wußte nicht warum. Er lebte nur noch, um Worte zu sagen, die ihm für kurze Zeit Erleichterung von seinen Schmerzen bringen würden.
»Vielleicht braucht er eine kleine Erinnerung an das, was wir alles mit ihm machen können, wenn er so eigensinnig bleibt.«
Es war fast witzig, dachte Bird, eine Parodie des Nichtverstehens. Aber er war zu schwach, um darüber zu lächeln. Und als sie nach ihm griffen, begann er zu schreien, zu stöhnen und zu betteln: »Laßt mich sterben!«
Aber er starb nicht. Kurz bevor er bewußtlos wurde, hörten sie auf.
»Erzähl' von der Waffe?«
Göttin, Diosa mia, Mama, Rio, irgendwer, ich kann nicht mehr und es gibt keinen Ausweg. Ich würde ihnen ja alles erzählen, wenn ich nur wüßte, was. Meine Zunge gehorcht mir nicht. Ich werde nie wieder so sein wie früher.
»Unsere Geduld ist am Ende. Jetzt wirst du erleben, daß wir uns bisher zurückgehalten haben.«
Er hörte die Stimmen der Toten: Du denkst, du kannst das nicht aushalten. Aber wir haben mehr ertragen: Die Streckbank, den Pfahl, das Rad, Kinderfolter, Zwangsarbeit, den steinigen Weg, daran ist schon manch Stärkerer zerbrochen. Wir haben alles erduldet, was Menschen nur erfinden können, um andere Menschen zu quälen. Und warum willst ausgerechnet du entfliehen, warum meinst du, ausgerechnet du müßtest gerettet werden?
Nein, nein, aber hilf mir, Göttin, hilft mir, bitte. Bird war längst nicht mehr sicher, zu wem er eigentlich betete, ob er laut sprach oder nur im Geiste; die Toten wirbelten dicht um ihn her.
»Was ist das für eine Waffe?«
Er schrie, oder dachte er es nur? Er war nicht mehr sicher, ob sich die Dinge in ihm abspielten oder außerhalb. Ein Schmerz traf sein Ohr – und plötzlich wurde ihm bewußt, daß es der schrille Klang seiner eigenen Stimme war. Ich möchte nicht vor Angst sterben, dachte er. Ich möchte nur einfach sterben, mich vereinen mit den Geistern, die in Sicherheit sind und ohne Schmerz.
»Noch mal? Brauchst du noch Überredung?«
»Den Tod!«, kreischte Bird gellend. »Ich schwöre bei den Vier Heiligen Elementen, bei der Göttin, bei Jesus, bei allem was ihr wollt, unsere Waffe ist der Tod.«
»Was soll das heißen?«
»Geister, Gespenster«, stieß er wild und verzweifelt hervor. »Poltergeister, Dinge, die durch die Luft fliegen. Ihr müßt das nicht glauben, aber die Göttin weiß es. Hekates Kraft ist in uns. Jeder von uns, den ihr tötet, wird zum Geist. Wir verhexen euch dann. Tötet eine Hexe, und ihr werdet nie wieder frei atmen können.«
Den Worten, die er sprach, wuchsen dunkle Flügel. Ein eisiger Wind wehte durch die Folterkammer und eine lange Reihe von Toten schwärmte durch den Raum, als hätte er ihnen die Pforte geöffnet.
»Ihr seht sie noch nicht«, flüsterte Bird, »aber bald, bald. Ihr werdet nie wieder frei sein. Seht ihr? Die ganze Sache ist eine Falle, die wir euch gestellt haben. Eine Falle, die euch dem Tod überantwortet. Hekate, die Große Schnitterin, die Todesgöttin erwartet euch.«
Er hätte immer so weitermachen können. Was ist nur aus mir geworden, dachte er, ein Lügner, ein Betrüger. Ich lebe nur noch von Augenblick zu Augenblick, von Atemzug zu Atemzug.
Aber sie glaubten ihm.
»Erzähl' uns mehr.«
»Wasser – ich brauche Wasser.«
Sie gaben ihm Wasser. Es umspülte seine ausgetrocknete Zunge, rann wunderbar kühl die Kehle hinunter und war wie Vergebung. Er trank langsam. Und während er trank, gab es nur eine Wirklichkeit, die Tasse, das
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