Das Fünfte Geheimnis
sie nicht früher darauf gekommen? Sie schwebte in der eiskalten Welt der tödlichen Trance, glitt in eiskalten Wogen auf und nieder, verlor zusehends an Wärme, entglitt immer mehr dem warmen Leben... Nein, sie würde das nicht hinnehmen! Katy durfte nicht sterben. Die Positive Welt schimmerte durch eine Eiskruste über ihren Köpfen. Sie reckte und streckte sich nach oben, das Hebammen-Messer in der Hand, mit dem sonst die Nabelschnur zwischen dem Neugeborenen und der Mutter durchschnitten wurde. Sie reckte sich und schnitt ein großes Stück von der imaginären Eiskruste über ihrem Kopf auf. Dann zog sie sich durch dieses Loch in die Höhe. Oh Mutter, flehte sie, laß mich nun in der Positiven Welt sein. Laß mich dort sein, wo Katy und ich leben können, wo ich sie heilen kann. Sie blickte suchend um sich, hochaufgerichtet, und langsam begann sie wieder zu glauben. Wie konnte sie die Ursache von Katys Fieber herausfinden? Sie schüttelte Angst und Furcht ab, stieß diese Gefühle hinunter in die Vergangenheit. Warum sollte diese Krankheit Katys schlimmer sein als die alten von früher? War sie nicht an all den Schwierigkeiten der letzten Monate nur gewachsen? Hatte sie nicht alle gemeistert? Sie hatte mit dem Bienen- Instinkt zu arbeiten gelernt, und dies war nur eine neu erworbene Möglichkeit von vielen. Ihre Mutter hatte recht. Ihr eigener Wille zu leben, das war eine Stärke, die auch anderen helfen konnte.
Sie beugte sich vor um aufzustehen. Dabei spürte sie etwas Hartes an ihren Hüften. Sie griff in ihre Tasche und hielt erstaunt ComputerDisketten in die Höhe, die sie im Medizin Center hatte mitgehen lassen. Richtig, die hatte sie ganz vergessen! Zu Hause konnten die Teccies sicherlich herausfinden, was auf diesen Disketten stand. Dann fielen ihr die Computer-Ausdrucke ein. Die lagen immer noch irgendwo in Saras Auto auf dem Wagenboden. In ihrer Aufregung hatte sie vergessen sie mitzunehmen. Oder waren sie doch hier an Bord?
Nervös erhob sie sich und durchsuchte alle ihre Taschen, dann stand sie auf. Die kurze Viertelstunde in der Koje hatte ihr gut getan, obwohl sie eigentlich immer noch müde war. Ihr Kopf war schwer, und jeder Atemzug schmerzte.
„Was ist los?“ fragte Mary Ellen. Sie saß am Fußende von Katys Lager und hielt ihre Hand. „Das Baby wird noch lange nicht kommen, schätze ich. Wolltest du nicht etwas schlafen?“
„Ich hatte ein clipboard mit Papieren drauf. Habe ich das aus dem Auto mitgenommen?“ fragte Madrone statt einer Antwort.
„Miss Sara fand es als wir aus dem Auto stiegen. Es muß irgendwo dort drüben auf dem Regal liegen.“
Erleichtert griff Madrone nach den Papieren und setzte sich wieder. Sie warf einen prüfenden Blick auf die schlafende Angela. Dann versenkte sie sich in das Geschriebene. Doch die endlosen Zahlenreihen und Symbole verwirrten sie. Es mochten genetische Merkmale sein. Vielleicht von Amino-Säuren, es konnte Tage, wenn nicht Wochen dauern, daraus Informationen abzulesen. Sie erinnerte sich dunkel an die Vorlesungen über genetische Codes, damals, während ihres Studiums. Es war nicht gerade ihr Lieblingsfach gewesen. Besser, alle diese Papiere gut aufheben. Zu Hause würde sich jemand finden, der damit etwas anfangen konnte.
Katy seufzte. Mary Ellen kühlte ihr ständig Gesicht und Arme mit feuchten Lappen. Doch Katy wurde zunehmend unruhiger.
„Sie hat Fieber, und es steigt!“
„Laß' sehen“, sagte Madrone. Sie setzte sich dicht neben Katy und beugte sich über die Kranke. Bin ich in der Positiven Wirklichkeit? fragte sie sich. Für eine Sekunde hatte sie Angst.
Mutter, ich habe Angst vor deinen Worten. Wenn unser Wille die Welt ins Positive verändern kann, warum ist die Welt dann wie sie ist?
„Der Wille kann die Welt nicht immer verändern“, hörte sie in ihrem Inneren Rachel antworten. „Der Versuch zur Veränderung kann die Hölle sein. Erinnere dich an deinen heißen Wunsch zu leben, er gab dir ungeahnte Kräfte.“
Isis und Sara kamen von Deck heruntergeklettert. Sie waren windzerzaust und von Gischt durchnäßt. Isis Muskeln tanzten nervös unter ihrer Haut. Dieses Boot gekonnt und schneidig zu segeln, war immer eine Herausforderung für sie. Saras Wangen waren von gesundem Rot überzogen, wie zwei warme rote Sonnen im Nebel. Ihr goldenes Haar lag zerzaust und verfilzt um ihre Schultern, Schönheit tat das keinen Abbruch.
„Okay, Mama“, antwortete Madrone der unsichtbaren Stimme, „ich will mich nicht beklagen.
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