Das Fünfte Geheimnis
wegzulaufen. Würden diese Hände nicht genauso eiskalt sein, wie der kalte, leblose Körper damals? Und das Gesicht, das liebe Gesicht ihrer Mutter. Würde es nicht von grausamen Wunden entstellt sein wie damals?
Ihre Mutter wartete. Madrone holte tief Luft und blieb stehen.
„Du kannst mich nicht zurückholen, das weißt du“, sagte ihre Mutter, „zu heilen ist immer gut. Katy zu retten war auch gut. Doch egal wieviele Menschenleben du noch retten wirst, meines ist vergangen. Du kannst mich nicht zurückholen.“
Madrones Augen füllten sich mit Tränen. „Ich weiß, Mutter. Ich bin kein Baby mehr, auch kein kleines Mädchen. Ich möchte nur die Erinnerung an dich zurückholen, unbefleckte Erinnerungen.“
Rachel streckte die Hände aus: „Die hast du schon!“
Madrone streckte ebenfalls die Hände aus. Die Hände ihrer Mutter fühlten sich warm an. Die Hände einer Heilerin in den Händen einer Heilerin. Wärme flutete zischen ihnen hin und her, Stärke, Liebe, Freude, Glück, Feuer und Eis gesellten sich hinzu und der Honigduft wilder Blumen.
„Was möchtest du für dich selbst?“ fragte ihre Mutter.
„Nichts, Mutter, gar nichts für mich.“
„Dann kannst du nicht wirklich heilen. Ein Heiler muß unbändiges Interesse haben, am Leben, an der Liebe und an aller Glückseligkeit des Lebens. Nur dann kannst du sorglos am Rande des Todes entlang gehen.“
Und plötzlich stand Madrone wieder ganz allein. Allein auf einer leeren Straße. Auf der eiskalten Straße, auf der sie so lange versucht hatte, diesen fremden Virus zu bekämpfen. Und plötzlich spürte sie kalt und hart das Messer von La Serpiente in ihrer Hand. Und sie bewegte es durch die silbrigen Spinnwebmuster des Schicksals. Doch etwas war nun anders. Sie fühlte sich von neuer Energie durchdrungen. Ruhige Stärke erfüllte sie. Ihr Messer glitt kraftvoll durch das Schicksalsnetz, und die Fäden schlossen sich auf geheimnisvolle Weise wieder, wie Geister. Sie selbst aber fühlte sich stark, sie war eins mit ihrem Blut und ihrem Leib und ihrer Seele.
Sie wollte leben. Das war es, was sie so verändert hatte. In den vergangenen Monaten hatte sie zu oft und zu hart um ihr Leben kämpfen müssen. Nie wieder würde sie sich in die Arme des Todes werfen. Sie erinnerte sich an die verzweifelte Kraft, mit der sie sich an den Rettungsring geklammert hatte, den Isis ihr zugeworfen hatte. Sie würde sich immer wieder daran erinnern, bei allem und jedem. Eines Tages würde sie sterben, aber der Tod würde ihr die Finger einzeln vom Rettungsring lösen müssen. Vielleicht würde sie Katy verlieren, vielleicht würde sie Katy und das Baby retten können. Aber sie würde nie mehr ihr eigenes Leben als Einsatz für ein Glücksspiel verwenden.
Also, was muß ich nun tun? Wie kann ich Katy heilen? Muß ich sie sterben lassen? Madrone war sich nicht sicher, an wen sie diese Frage eigentlich stellte. Aber dann erschien ihr plötzlich das Gesicht ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge. Oder war es nicht ihre Mutter Rachel? War es La Serpiente, die weise Alte? Und wessen Stimme war es, die nun zu ihr sprach?
„In dieser Situation reicht es nicht aus, Heilerin zu sein. Da mußt du Hexe sein.“
Das war Rachel, die auf Spanisch sprach. Sie benutzte das Wort bruja, Zauberin.
„Wie meinst du das?“
„Du kannst diese Krankheit nicht heilen. Du mußt die Wirklichkeit verändern, in der diese Krankheit existiert.“
„Aber wie soll ich das schaffen? Sag' mir das!“
„Du hast schon damit begonnen. Verbinde deinen Willen mit deiner Existenz. So sammelst du deine wahre Stärke.“
Bitte, Mutter, keine Philosophie. Sag mir nur einfach, was ich tun muß.“
„Erschaffe die Gute Welt in deinem Geist. Halte an ihr so fest, wie du dich am Leben festhältst und schlüpfe hinein.
„Oh, sicher, das ist mir völlig klar.“
Doch Rachel war verschwunden, und Madrone war plötzlich hellwach. Sie lauschte auf das Kratzen und Scharren der Ankerkette am Bug. Offenbar nahmen sie Zuflucht für die Nacht in einem von Isis geheimen Schlupfwinkel. Hoffentlich waren sie hier in Sicherheit.
Sie überdachte die Anweisungen ihrer Mutter. In El Mundo Bueno, der Positiven Welt, konnte Katys Krankheit nicht dieselbe schlimme Krankheit sein, die sie selbst fast getötet hatte. Doch was dann? Sie mußte etwas ausdenken, es ausprobieren, auch wenn es vielleicht nicht perfekt war. Es war ihr plötzlich sonnenklar, die Stewards hatten einen neuen Virus an Katy ausprobiert. Warum war
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