Das Fünfte Geheimnis
gemacht haben.“
„Was das betrifft, so wissen wir auch nicht, ob sie überhaupt irgendetwas mit ihm gemacht haben, gab Cress zurück. „Nein, laßt mich ausreden. Ich habe ein Recht, diese Frage auszusprechen. Er war zehn Jahre bei ihnen im Süden verschwunden. Er kommt zurück. Ein paar Monate später sind die Invasions-Armeen der Stewards hier. Und in der Zwischenzeit hat er uns alle Pläne, eine bewaffnete Armee aufzustellen, ausgeredet. So konnten sie uns überrollen. Und nun steht er da und will Wasserrationierungskarten austeilen. Das alles macht mich mißtrauisch.“
Maya war aufgefahren und wollte etwas sagen, doch Sam legte ihr begütigend die Hand auf den Arm. „Du kannst ihn schlecht verteidigen“, flüsterte er ihr zu, „du als seine Großmutter.“
Einen Moment lang dachte Maya, niemand würde sich für Bird einsetzen. Aber dann erhob sich der große Mann, der neben Sachiko saß. Maya erkannte in ihm einen alten Freund von Bird. Auch ein Gitarrist. Wie hieß er doch? Walker?
„Ich habe Bird viele Jahre gekannt“, fing Walker an, „ich kann mir zwar vorstellen, daß er unter Folter sprechen würde. Wie jeder von uns. Aber ich glaube einfach nicht, daß er ein Verräter ist. Und selbst wenn er es wäre, sollte ihn niemand verurteilen, bevor Beweise erbracht worden sind. Gerüchte und Andeutungen helfen uns nicht weiter. Verdächtigungen wie deine, Cress, verursachen mehr Ärger als zehn Kollaborateure. Besonders, wenn sie uns davon abhalten, unsere eigenen Leute zu unterstützen.“
„Ich verdamme ihn ja nicht“, gab Cress zurück, „ich persönlich glaube auch, daß er seine Widerstandsfähigkeit überschätzt hat. Aber sein Fall zeigt doch, was ich meine. Er ist ein Beispiel dafür, daß wir alle zum Schluß der Gewalt der Stewards nicht widerstehen können.“
„Es könnte sogar sein, daß er sich immer noch widersetzt, aber auf seine eigene Weise“, gab Walker zu bedenken.
„Wie denn? Indem er ihre Wasserrationierungskarten verteilt?“
„Niemand hat auch nur eine einzige Karte angenommen“, sagte Walker. „Und warum? Weil nahezu jeder eine Wasserzisterne im Hause hat, die bisher immer noch voll ist vom Winterregen. Wenn Bird ein Verräter ist, warum hat er nichts von diesen Zisternen erzählt? Sie wissen doch ganz offensichtlich nichts davon.“
Eine ältere Frau meldete sich. Sie trug ein Kleid aus handgewebter Seide und gehörte offensichtlich zur Seidengilde. „Meine Tochter wurde von den Soldaten gefangengenommen. Sie ist noch zu geschockt, um ihre Geschichte selbst vorzutragen. Die Stewards wollten sie vergewaltigen, eine ganze Gang. Sie kämpfte verzweifelt, aber sie fesselten sie an ein Bett. Dann kam Bird herein.“ Die Frau machte eine Pause. Maya drückte Sams Hand – so hart, daß seine Finger weiß wurden. „Irgendwie hat Bird es ihnen ausgeredet“, fuhr die Frau fort, „jedenfalls haben sie meine Tochter wieder gehen lassen. Er ist ganz sicher kein Verräter.“
Maya seufzte tief auf, Sam streichelte ihre Hand.
„Das ist jetzt nicht die Frage“, meldete sich Cress wieder. „Es geht jetzt nicht um Bird. Es geht um unsere gesamte Strategie. Wir waren zu naiv. Warum wollen wir nicht zugeben, daß die Taktik des gewaltfreien Widerstandes nicht funktioniert?“
„Bitte Fakten!“ rief Lily. Sie trug ein schlichtes graues Kleid, sie sah niedergeschlagen aus. „Wir wissen, daß nicht alles geklappt hat.“
„Es ist Zeit, daß wir zurückschlagen?“ forderte Cress.
In der Stille, die darauf folgte, fühlte Maya, wie die Spannung im Raum sich polarisierte. Es gab viele, die insgeheim Cress zustimmten, und es würden wohl mehr werden mit jedem Tag, den der Konflikt noch andauerte.
„Der Verteidigungs-Ausschuß stimmt nicht zu“, rief Lily.
„Das versteht sich von selbst. Aber was schlagt ihr vor? Wir können uns doch nicht hinwerfen und ihre Lasergewehre auffressen. Wir können uns nicht alle umdrehen lassen wie Bird, einer nach dem anderen.“
„Ich habe nichts dergleichen gemeint“, Lilys Stimme war ganz ruhig. Wie macht sie das nur, fragt sich Maya. Hat sie das vorm Spiegel geübt, oder kommt es von ihren jahrelangen Meditationssitzungen?
„Dann sag', was du gemeint hast“, verlangte Cress. „Die Forest People haben die Eisenbahnlinie immer noch offen gehalten. Die Leute von der South Bay haben die Schienen gesprengt.“
„Ist das wahr?“ Salal, der bei dieser Sitzung Crow war, unterbrach sie. „Kann mir einer Näheres darüber
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