Das Fünfte Geheimnis
nahm eine andere Gruppe ihren Platz ein. Nachts wanderten zuerst Hunderte, dann Tausende von Menschen durch die Straßen, ganz in Weiß gekleidet, singend und Trommeln schlagend. Madrone schloß sich ihnen gern an, wenn ihr Tagewerk getan war. Es stillte ein tiefes Bedürfnis in ihr, wenn sie mit den anderen marschierte, ihre Stimme sich mit denen der anderen City-Bewohner mischte. Die Soldaten standen nur noch und schauten zu. Entweder hatten sie keinen Befehl zu schießen, oder sie hatten Angst, verhext zu werden. Niemand wußte es. Manchmal hatte Madrone das unheimliche Gefühl, die Toten marschierten mit ihnen. Stimmen wisperten in der Luft, und das Echo vieler Füße hallte von den Bürgersteigen und Häuserwänden. Nebelfetzen hingen niedrig am Boden und bewegten sich im Wind.
Ein Tag verging, und noch ein Tag. River ging es immer noch gut. Er hielt Madrone auf der Türschwelle auf, er wollte gern mitmarschieren. Doch Madrone fürchtete, er könnte von jemanden aus seiner Armee-Einheit erkannt werden.
„Warte noch einen Tag“, sagte sie, „dann können wir entscheiden. Und dann kannst du deine Kumpels wissen lassen, daß sie nichts zu fürchten haben, wenn sie bei uns Schutz suchen.“
River schüttelte den Kopf. „Wozu warten? Ich habe bisher keinen Rückfall gehabt. Ich fühle mich prima. Ich spüre den Unterschied zu früher ganz genau. Ich fühle, daß mein Körper zu mir gehört, wie ich es noch nie zuvor empfunden habe.“
„Wie schön, River.“
Der Trommelschlag zog sie hinaus, trieb sie alle zusammen mit dem gleichen Rhythmus. Sie sangen alle gemeinsam mit einer heiseren Stimmen, ein wilder Unterton schwang darin mit. Es würde etwas geschehen. Es war jetzt die Zeit dafür.
✳✳✳
Die Ratsversammlung war nur klein, und eine der Stimmen fehlte. Coyote war in der Nacht zuvor erschossen worden. Er hatte versucht, eine Schwadron Soldaten abzudrängen, die einen Transportturm zerstören wollten.
„Wenn eine unserer Stimmen fehlt, ist dies kein richtiges Meeting“, protestierte eine junge Frau.
„Egal“, gab Joseph bedächtig zurück, „ich leite heute die Versammlung. Ich entscheide. Wir haben keine Wahl. Es ist keine Zeit, einen Nachfolger zu bestimmen. Wir müssen Entscheidungen treffen.“
„Das ist nicht in Ordnung“, murrte eine andere Frau, „es wird Unglück bringen. Aber wir müssen wohl so entscheiden.“
„Es ist ein Zeichen“, schrie Cress und sprang auf, „wir haben unsere Feinde zu viel zerstören lassen, sogar eines unserer Vier Geheiligten Dinge. Wann schlagen wir endlich zurück?“
„Wir schlagen ständig zurück“, sagte Lily, „wir sind auf dem Weg zum Sieg. Jeden Tag laufen Soldaten zu uns über.“
„Aber nur wenige, sie haben noch viele Tausende. Und einige von uns helfen ihnen sogar.“
„Ich will nicht schon wieder über Bird debattieren. Das haben wir schon gehabt“, sagte Lily.
„Ich habe kein Wort von Bird gesagt“, protestierte Cress, „du hast ihn erwähnt. Tatsache ist, daß die paar kranken Soldaten uns nicht zum Sieg verhelfen werden. Der Gegner kann tausende Soldaten gegen uns einsetzen – hunderttausende!“
„Auch das ist ein Grund, warum wir mit Gewalt nicht gewinnen können“, gab Lily zurück.
„Lily, du scheinst nicht zu begreifen, daß die meisten City-Bewohner von dem ganzen mystischen Hexenzauber genug haben. Was hat uns die Sache denn gebracht? Tote noch und noch, den Fluß eingedämmt, Menschen, die auf der Straße verdursten oder zu Hause verhungern.“ Cress kam immer mehr in Fahrt. Joseph sprang auf und schrie nach Ruhe. Aber Cress ignoriert ihn.
„Das ist jetzt vorbei, Lily! Noch ein Massaker, noch mehr Tote, dann werden wir aktiv, aber richtig. Council hin, Council her.“
„Dann wird der Gegner gewinnen“, Lily sprang ebenfalls auf und erhob ihre Stimme, „du setzt alles aufs Spiel, was wir bisher erreicht haben, wofür wir gelitten haben. Was hält uns denn zusammen in dieser City, was hat uns denn befähigt, dies alles aufzubauen, wenn nicht der Respekt vor dem Council, vor unseren einmütig gefaßten Beschlüssen. Wenn du das Council mißachtest, ist es mit uns bald vorbei. Alles wird zerstört werden, die City ebenso wie die Menschen darin.“
„Wenn Konsens den Willen der Mehrheit blockiert, ist das Tyrannei!“ schrie Cress.
„Du hast aber nicht die Mehrheit, du hast nur eine laute Stimme!“
„Nein, umgekehrt, du hast eine Stimme, die die Mehrheit blockiert.“
„Aufhören“, donnerte
Weitere Kostenlose Bücher