Das fuenfte Imperium
Welt bleibt jedoch bestehen. Darum muss jeder normale Mensch, der nach dem Positiven auf Erden sucht, unweigerlich zum Parteigänger des Bösen werden: Das ist so logisch wie der Eintritt in eine alleinherrschende Partei. Das Böse, auf dessen Seite der Mensch sich schlägt, steckt nur in seinem Kopf und nirgends sonst. Wenn aber nun alle Menschen insgeheim zum Bösen konvertieren, das einzig und allein in ihren Köpfen besteht - was braucht das Böse dann noch, um zu triumphieren ?
Das Verständnis von Gut und Böse berührte unmittelbar Fragen der Religion. Was ich darüber in den Religionsstunden erfuhr (Religion als »Regionalkult«, wie Jehova sich auszudrücken beliebte), fand ich doch sehr verblüffend. Wie den Proben der Reihe Gnosis+ zu entnehmen war, wurde kurz nach Entstehung des Christentums der Gott des Alten Testaments in neuer Doktrin als Teufel angesehen. Später dann, in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, als es galt, den römischen Staat zu befestigen, wurden Gott und Teufel politisch korrekt zu einem Anbetungsgegenstand vereinigt, dem zu huldigen ein rechtgläubiger Patriot des untergehenden Abendlandes nicht umhin konnte. Die Quellentexte wurden sortiert, abgeschrieben und dabei sorgfältig im neuen Geist redigiert, alles Übrige verbrannt, wie es sich gehört.
Dazu schrieb ich das Folgende in mein Heft:
Jedes Volk (im Grunde jeder einzelne Mensch) sollte sich seine Religion tunlichst selbst erarbeiten, anstatt die alten, abgetragenen Klamotten zu übernehmen, in denen es von fremden Flöhen wimmelt ... Daher rühren alle Krankheiten! Völker, die heutzutage auf dem Vormarsch sind - Indien, China usw. -, importieren lediglich Technologie und Kapital, die Religion bleibt hausgemacht. Ein jedes Mitglied dieser Gesellschaften darf sich sicher sein, die eigenen Kakerlaken anzubeten und nicht irgendwelche untergeschobenen, nachträglich frisierten, womöglich nur falsch ab geschriebenen oder übersetzten. Bei uns hingegen ... Eine Handvoll Texte zum Fundament der nationalen Weltanschauung zu machen, von denen man nicht weiß, wer sie wo wann geschrieben hat - das ist, als hätte man auf einem Strategiecomputer eine geklaute Version von Windows 95 in türkischer Sprache installiert: ohne Updatemöglichkeit, mit Sicherheitslücken, Würmern und Viren en masse und einer von unbekannter Künstlerhand umgemodelten dynamischen Bibliothek *.dll, weshalb sich das System alle zwei Minuten aufhängt. Die Menschen bräuchten eine offene Architektur des Geistes: open source. Doch die Judäochristen sind schlau. Jeder, der solch eine Architektur vorschlägt, ist der Antichrist, ln einer fernen Zukunft hocken und mit einem gefakten Hintern fäkalieren, der noch in der fernen Vergangenheit hängt - das ist das eindrücklichste aller Wunder des Judäochristentums.
Einige dieser Sentenzen mögen etwas sehr anmaßend für einen Vampir am Anfang seiner Laufbahn erscheinen. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass Begriffe und Ideen dieser Art mir schon immer recht wenig bedeutet haben.
Den Diskurs eignete ich mir spielend an, auch wenn er
mich in eine misanthropische Stimmung versetzte. Hingegen hatte ich mit dem Glamour von Beginn an meine Schwierigkeiten. Das meiste kapierte ich noch irgendwie - bis zu dem Moment, wo Baldur sagte: »Manche Experten sind der Meinung, es gäbe in der modernen Gesellschaft keine Ideologie, nur weil sie als solche nicht ausformuliert ist. Aber das ist ein Irrtum. Die Ideologie der anonymen Diktatur ist der Glamour. «
Ich sah eine Woge lähmender Stumpfheit über mich kommen.
»Und der Glamour in einer anonymen Diktatur ist was?«
»Rama«, sagte Baldur missmutig, »das haben wir doch schon in der ersten Lektion durchgenommen. Der Glamour der anonymen Diktatur ist ihr Diskurs.«
In Baldurs und Jehovas Worten klang das alles sehr eingängig und glatt. Der Vorstellung aber, Photos von halbnackten Weibern mit Brillanten an den Silikontitten könnten die Ideologie eines Regimes ausmachen, mochte ich beim besten Willen nicht folgen.
Zum Glück gab es eine effektive Methode, Fragen dieser Art zu klären. Hatte ich in Baldurs Ausführungen etwas nicht verstanden, fragte ich in der nächsten Stunde Jehova danach und bekam eine alternative Erläuterung nachgereicht. Und war etwas an Jehovas Darlegungen unklar, konnte ich Baldur fragen. Am Ende bewegte ich mich wie ein Bergsteiger, der, die Füße links und rechts gegen die Wände stemmend, einen Kamin
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