Das fuenfte Imperium
»Im Gegenteil, ich blicke immer weniger durch.«
»Das kann nur daran liegen, dass ihr immer noch wie Menschen denkt.«
Schon wieder dieser Urteilsspruch. Ich zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern.
»Dann bringen Sie uns bei, wie man anders denkt«, brummte Hera.
Enlil Maratowitsch brach in Lachen aus.
»Meine Liebe«, sagte er, »fünfhundert Marktforscher haben euch zehn Jahre lang ins Hirn geschissen, und ihr möchtet, dass ich dort mal eben in fünf Minuten ausmiste ... Nehmts mir nicht übel. Ich mache euch doch keine Vorwürfe. Ich war selbst so einer. Denkt ihr, ich weiß nicht, worüber ihr euch nachts den Kopf zerbrecht? Ich weiß das sehr gut: Ihr habt immer noch keine Ahnung, wo die Vampire ihre Dosis an roter Menschenflüssigkeit herkriegen. Ihr stellt euch Spendezentralen vor, gefolterte Kleinkinder, unterirdische Laboratorien und ähnlichen Firlefanz. Stimmts?«
»So in etwa«, gab ich zu.
»Wenn es doch einmal in vierzig Jahren anders gewesen wäre! Das ist für mich, wenn ihr es genau wissen wollt, das Verblüffendste gewesen, was mir im Leben widerfahren ist: die allgemeine Blindheit. Wenn euch erst der Schleier von den Augen gefallen ist, werdet ihr euch genauso wundern.«
»Was denn für ein Schleier nun?«, fragte Hera.
»Gehen wir doch einmal logisch vor. Da der Mensch nun einmal als Melktier auf der Welt ist, kann seine Hauptbeschäftigung nur im Zusammenhang mit der Nahrungsbereitstellung für uns Vampire stehen, nicht wahr?«
»Richtig.«
»Und jetzt sagt selbst: Welches ist die Hauptbeschäftigung des Menschen?«
»Kinder in die Welt zu setzen?«, schlug Hera vor.
»Das geschieht in der zivilisierten Welt immer weniger. Von einer Hauptbeschäftigung kann da nicht die Rede sein. Nein, was ist für den Menschen am allerwichtigsten?«
»Geld?«, fragte ich.
»Na, also! Und was ist das: Geld?«
»Als ob Sie das nicht selber wüssten!«, versetzte ich und zuckte die Achseln. Was übrigens gar nicht so einfach ist, wenn man kopfüber hängt.
»Ich vielleicht. Aber wisst ihr es?«
»Da gibt es an die fünf ... nein, sieben Definitionen.«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber alle deine Definitionen haben einen grundlegenden Mangel. Sie sind erfunden zu dem einzigen Zweck, Geld zu verdienen. Und das ist, als wollte man die Länge eines Lineals mit ebendiesem Lineal messen ...«
»Sie halten die Definitionen für falsch?«
»Falsch, darum geht es nicht. Aber wenn man sie näher betrachtet, so sagen alle nur das eine: Geld - ist Geld. Sie besagen also gar nichts. Zugleich aber«, betonte Enlil Maratowitsch, den Zeigefinger hebend, »wissen die Leute unterschwellig sehr genau, was vorgeht. Denk einmal daran, wie die Angehörigen der sozialen Unterschichten ihre Vorgesetzten bezeichnen!«
»Ausbeuter?«
»Blutsauger?«, bot Hera an.
Ich erwartete, dass Enlil Maratowitsch sie für diese Antwort in der Luft zerreißen würde, doch das Gegenteil geschah: Er klatschte vergnügt in die Hände.
»Volltreffer, mein kluges Kind! Absauger roter Flüssigkeit, so nennen sie sie. Obwohl keiner von denen das im eigentlichen Sinne tut. Geht euch ein Licht auf?«
»Wollen Sie sagen ...«, begann Hera, aber Enlil Maratowitsch ließ sie nicht ausreden.
»Jawohl. Genau das will ich sagen. Die Vampire verwerten schon lange nicht mehr die biologische rote Flüssigkeit, sondern ein sehr viel weiter entwickeltes Medium menschlicher Lebensenergie. Das Geld!«
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte ich.
»Aber ja. Überleg doch mal. Was ist die menschliche Zivilisation, was stellt sie dar? Nichts als eine riesige Geldmaschine. Die Städte sind Geldfabriken, nur aus diesem Grund leben dort so viele Menschen auf einem Fleck.«
»Aber dort wird doch nicht nur Geld produziert...«
»Es geht immer nur um Wachstum«, unterbrach mich Enlil Maratowitsch, »obwohl keiner genau weiß, was da eigentlich wächst und wohin. Jedenfalls wächst es und wächst, und alle fiebern mit, ob es denn schneller oder langsamer wächst als bei den anderen. Zwischendurch geht das Ganze plötzlich den Bach runter, und es wird Staatstrauer verkündet. Und anschließend wächst es wieder. Und das, obwohl in der ganzen Zeit keiner dieser Stadtbewohner das seltsame Etwas auch nur ein einziges Mal gesehen hat...«
Er machte eine weit ausholende Gebärde, als deutete er auf ein unsichtbares Stadtpanorama außerhalb der Mauern.
»Die Leute produzieren ein Produkt, von dem sie keinerlei Vorstellung haben«, fuhr er
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