Das fünfte Kind. Roman
stöhnte sie, und dann setzte sie sich plötzlich auf, oder sie kroch aus dem Bett und strebte vornübergebeugt aus dem Zimmer, rasch, als könnte sie so dem Schmerz entfliehen.
David hatte längst aufgehört, auf die altvertraute, kameradschaftliche Weise Harriets Bauch zu streicheln, denn was er da fühlte, ging über seine Fassungskraft. Es war doch nicht möglich, dass ein so kleines, unfertiges Wesen derart erschreckende Kräfte entfaltete, und doch war es so. Und nichts, was David sagte, schien Harriet zu erreichen, die ihm wie besessen vorkam und sich in diesem Kampf mit dem Ungeborenen, von dem er ausgeschlossen war, weit von ihm entfernt hatte.
Oft geschah es, dass er aufwachte und sie im dunklen Zimmer hin und her gehen sah, Stunde um Stunde. Dann legte sie sich endlich hin, versuchte, gleichmäßig zu atmen, fuhr mit einem Jammerlaut wieder hoch, merkte, dass er wach war, und ging hinunter ins geräumige Wohnzimmer, wo sie weiter hin und her laufen konnte, stöhnend, weinend, fluchend, ohne beobachtet zu werden.
Als die Osterferien nahten und die beiden älteren Damen davon sprachen, dass sie das Haus herrichten müssten, sagte Harriet: »Sie können nicht kommen. Sie können unmöglich kommen.«
»Aber sie erwarten es doch«, sagte Dorothy.
»Wir schaffen das schon«, sagte Alice.
»Nein«, sagte Harriet.
Die Kinder erhoben ein lautes Jammer- und Protestgeschrei, aber Harriet ließ sich nicht erweichen.
Dorothys Missfallen wuchs. Zwei tüchtige Frauen stellten sich zur Verfügung, sie und Alice, um alle Arbeit zu übernehmen, da war es doch wohl das Mindeste, dass Harriet …
»Willst du wirklich niemanden von der Familie hierhaben?«, fragte David, nachdem die Kinder ihn angebettelt hatten, der Mutter gut zuzureden.
»Ach, macht, was ihr wollt«, sagte Harriet ermattet.
Aber als die Ostergesellschaft beisammen war, sollte Harriet recht behalten: Es wurde kein Erfolg. Wenn sie so am Tisch saß und sich mit abgespanntem, geistesabwesendem Gesicht gegen die nächste Attacke wappnete, erstarb jedes Gespräch, und allen war die Laune verdorben.
»Was hast du da bloß drin?«, versuchte Schwager William unbeholfen zu witzeln, als er sah, wie Harriets Bauch sich förmlich aufbäumte. »Einen Ringkämpfer?«
»Das weiß Gott allein«, sagte Harriet bitter, ohne sich auf seinen Ton einzulassen. »Wie soll ich das bloß bis Juli durchstehen?«, fügte sie kaum hörbar hinzu, wie von Grauen gepackt. »Ich halt das nicht aus! Ich halt das einfach nicht mehr aus!«
Für alle Familienangehörigen, auch David, stand fest, dass Harriet lediglich überfordert war, weil dieses fünfte Kind zu bald nach dem vierten kam. Man musste ihr vieles nachsehen. Harriet blieb allein mit ihrem Martyrium, und sie wusste, dass es nicht anders sein konnte, dass sie ihrer Familie keinen Vorwurf deswegen machen durfte und dass es ihnen unmöglich war, ihr nachzuempfinden, was auch sie selbst nur nach und nach und gezwungenermaßen begriffen hatte. Sie wurde schweigsam, verdrießlich, misstrauisch gegen sie alle und ihre unausgesprochenen Gedanken. Das Einzige, was ihr half, war dauernde Bewegung.
Wenn sie eine starke Dosis Beruhigungsmittel genommen hatte und der Feind (so dachte sie jetzt schon an den fremden Wildling in ihr) eine Stunde lang Ruhe gab, machte sie so viel als möglich aus der Gnadenfrist und schlief. Sie riss den Schlaf geradezu an sich, hielt ihn fest und schlürfte ihn in sich hinein – bis das fremde Wesen in ihr mit einem Ruck wieder zu sich kam und sich dehnte und reckte, ein Gefühl, das Harriet Übelkeit verursachte. Sie wischte die Küche auf, reinigte Wohnzimmer und Treppen, putzte die Fenster und scheuerte Schränke, um unter vollem Einsatz ihres Körpers den Schmerz zu betäuben. Sie bestand darauf, dass ihre Mutter und Alice sie arbeiten ließen, und wenn die älteren Damen meinten, die Küche habe es doch nicht schon wieder nötig, erwiderte Harriet: »Die Küche nicht, aber ich.«
Wenn die anderen zum Frühstück zusammenkamen, hatte sie womöglich schon drei oder vier Stunden gearbeitet und sah hohläugig und verhärmt aus. Sie brachte David zum Bahnhof und die beiden »Großen« zur Schule und in den Kindergarten, ließ dann den Wagen irgendwo stehen und lief umher. Sie rannte beinahe im Sturmschritt durch die Straßen, blindlings, stundenlang, bis sie merkte, dass sie Aufsehen erregte. Daraufhin gewöhnte sie sich an, eine kurze Strecke landeinwärts zu fahren, dann auszusteigen und an
Weitere Kostenlose Bücher