Das fünfte Kind. Roman
den Feldrainen entlangzulaufen. Leute, die im Auto vorbeikamen, drehten sich verdutzt nach dieser bleichen Frau um, die mit fliegenden Haaren und offenem Mund daherstürmte, keuchend, die Arme vor dem Leib. Manche hielten an, um ihr Hilfe anzubieten, doch sie schüttelte den Kopf und rannte weiter.
So verging die Zeit. Sie verging wirklich, obgleich für Harriet in einem anderen Maßstab als für ihre Umgebung und auch nicht nach dem gewohnten Schwangerschaftskalender, der langsam und behäbig das Wachstum des werdenden Geschöpfes anzeigt. Harriets Zeit bestand aus Dulden und Leiden. In ihrem Hirn tummelten sich Gespenster und Schimären. Manchmal dachte sie: »Wenn die Gen-Techniker mit ihren Experimenten Erfolg haben und zwei Tierarten von ganz verschiedener Größe zusammenflicken, dann muss die arme Mutter, die es austrägt, sich so fühlen wie ich.« Sie stellte sich jämmerlich verpfuschte Geschöpfe vor, etwa die Kreuzung zwischen einem Bernhardiner oder Barsoi und einem Zwergspaniel, zwischen einem Löwen und einem Hund, einem dicken Brauereipferd und einem kleinen Esel, einem Tiger und einer Ziege. Manchmal glaubte sie, Hufe zu spüren, die ihr die Eingeweide zerrissen, oder Raubtierkrallen.
Nachmittags holte sie die Kinder von der Schule ab, und später auch David von der Bahn. Während des Abendessens lief sie rastlos in der Küche herum, dann setzte sie die Kinder vor den Fernseher und ging ins Dachgeschoss hinauf, um allein im Flur hin und her zu hasten.
Die Familie hörte ihre raschen, schweren Schritte, und keiner wagte den anderen anzusehen.
So verging die Zeit. Sie verging wirklich. Der siebente Monat ließ sich etwas besser an, doch nur dank der Medikamente, die Harriet einnahm. Von dem Moment an, als ihr mit Schrecken bewusst wurde, welcher Abgrund sich zwischen ihr und ihrem Mann, zwischen ihr und den Kindern, ihrer Mutter und Alice aufgetan hatte, teilte sie ihren Tag nach einem ausgeklügelten Plan ein, um nur das eine zu erreichen: von vier Uhr nachmittags, wenn die Kinder aus der Schule kamen, bis zur Schlafenszeit um acht oder neun ganz normal zu erscheinen. Die Mittel hatten offenbar keine besondere Wirkung auf sie selbst; vielleicht gehorchten sie Harriets Willen und konzentrierten sich auf das Baby, den Fötus, dieses Wesen, mit dem sie zusammengesperrt war und einen Kampf auf Tod und Leben ausfocht. Mit den Medikamenten stellte sie es für die kritischen Stunden ruhig, und wenn es Anzeichen von sich gab, wieder munter zu werden, nahm sie rasch eine zusätzliche Dosis.
Ach, wie freudig die Familie ihre »Rückkehr zur Normalität« begrüßte. Man übersah ihre innere Spannung, ihre Erschöpfung – weil Harriet es so wollte.
David legte den Arm um sie und fragte: »Oh, Harriet, geht es dir nun
wirklich
gut?«
Noch zwei Monate.
»Ja, ja, keine Sorge. Wirklich.« Und im Stillen drohte sie dem Wesen, das da zusammengekauert in ihrem Leib saß: »Wenn du nicht sofort still bist, nehme ich wieder eine Pille.« Sie hatte den Eindruck, dass es sie hörte und verstand.
Eine Küchenszene: Die Familie beim Abendessen. Harriet und David saßen am Kopf- und Fußende des Tischs, Luke und Helen zusammen an einer der Längsseiten. Alice hatte den kleinen Paul, der nie genug schmusen konnte, auf dem Schoß; er bekam so wenig Zärtlichkeit von seiner Mutter. Jane saß nahe bei ihrer Großmutter, die mit der Schöpfkelle am Herd hantierte. Harriet beobachtete ihre Mutter, diese kräftige, gesunde Mittfünfzigerin mit den dicken eisengrauen Locken, dem frischen Gesicht und den großen blauen Augen – »wie Glasmurmeln« lautete ein Familienwitz – und dachte: »Ich bin ebenso stark wie sie. Ich werde es überleben.« Und dann lächelte sie die dünne, drahtige, energisch zähe Alice an und dachte: »Man sehe sich nur diese älteren Frauen an. Sie haben alles überlebt.«
Dorothy füllte die Teller mit Gemüsesuppe und teilte sie aus. Dann setzte sie sich gemütlich an ihren eigenen Platz. Der große Brotkorb wurde herumgereicht. Der Familienfriede war zurückgekehrt und saß mit ihnen bei Tisch – und Harriets Hand, die unter der Kante niemand sah, legte sich über den Feind:
»Du sei still.«
»Eine Geschichte!«, bat Luke. »Erzähl uns was, Daddy.«
An den Wochentagen, denen ein Schultag folgte, wurden die Kinder abends früher abgefüttert und zu Bett geschickt. Aber freitags und samstags aßen sie zusammen mit den Erwachsenen und hatten Anspruch auf eine Geschichte.
Hier in der
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