Das fünfte Kind. Roman
beieinander war.
Ben blieb also fast immer in seinem Zimmer, wie ein Gefangener. Mit neun Monaten war er bereits zu groß für das Gitterbett: Harriet kam gerade herein, als er sich über den Rand zu stürzen drohte. Nun wurde ein normales Bett in sein Zimmer gestellt. Er lief schon mit Leichtigkeit, wobei er sich nur ab und zu an den Wänden oder einem Stuhl abstützte. Das Krabbelstadium hatte er glatt übersprungen; er stand übergangslos auf eigenen Füßen. Der Boden des Zimmers war mit verstreutem Spielzeug, das heißt mit dessen Bruchstücken, bedeckt. Ben spielte nicht damit; er schmetterte alles auf den Boden oder an die Wand, bis es kaputt war. Als er zum ersten Mal freihändig dastand, erhob er ein Triumphgeschrei. All die anderen Kinder hatten in diesem Moment gelacht, gekichert und gefordert, für ihre Leistung bewundert und besonders geliebt zu werden. Bei Ben keine Rede davon. Es war ein kalter Sieg, und fortan stolperte er mit böse glimmenden Augen herum, ohne seine Mutter zur Kenntnis zu nehmen. Harriet fragte sich oft, was er wohl in ihr sehen mochte. Nichts in seinem Verhalten oder in seinen Blicken schien jemals zu sagen: Das ist meine Mutter.
Eines Morgens wurde Harriet schon früh von irgendetwas aus dem Bett und ins Kinderzimmer getrieben, und da sah sie Ben auf dem Fensterbrett balancieren. Es war ziemlich hoch, und nur Gott mochte wissen, wie er da hinaufgelangt war! Das Fenster war offen. Ben konnte jeden Moment hinausfallen. Harriet ertappte sich bei dem Gedanken: »Wie schade, dass ich dazwischengekommen bin …«, aber nachher weigerte sie sich, über ihre eigene Schlechtigkeit entsetzt zu sein. Das Fenster wurde solide vergittert, und fortan stand Ben dort oben, umklammerte die Eisenstangen, rüttelte daran, beobachtete die Welt da draußen und stieß seine lauten, heiseren Schreie aus. Während der Weihnachtsferien blieb er in seinem Zimmer eingeschlossen. Es war bemerkenswert, wie die Gäste nach der vorsichtigen Frage »Wie geht es Ben?« und der Antwort »Gut!« jede weitere Erkundigung unterließen. Nur manchmal war ein Schrei von Ben laut genug, um die Gespräche unten im Wohnzimmer zu unterbrechen. Dann nahmen alle Gesichter diesen bedenklichen Zug an, den Harriet so fürchtete, obwohl sie ständig mit ihm rechnete. Sie wusste, dass sich dahinter Gedanken und Meinungen verbargen, die niemand aussprechen wollte.
Und so war das Haus nicht mehr dasselbe; jedermann benahm sich gezwungen und war irgendwie auf der Hut. Harriet wusste, dass einzelne Gäste, von dieser furchtsamen Neugier geplagt, die Ben hervorrief, gelegentlich zu ihm hinaufgingen, wenn sie, Harriet, außer Sichtweite war. An der Art, wie die betreffende Person sie hinterher ansah, bemerkte sie sofort, dass sie ihn gesehen hatte. Wie eine Verbrecherin! Viel zu oft fraß sie ihre Wut in sich hinein und kochte innerlich, konnte es aber nicht abstellen. Selbst David, so glaubte sie, hatte über sie den Stab gebrochen. Sie sagte zu ihm: »Früher, in primitiven Gesellschaften, hat man die Gebärerinnen solcher Monstrositäten ausgestoßen. Aber wir sind ja angeblich zivilisiert!«
David erwiderte auf die geduldige, aber wachsame Art, die er ihr gegenüber angenommen hatte: »Du übertreibst einfach alles.«
»Ein treffender Ausdruck! Für diese Situation! Gratuliere! Ich
übertreibe
!«
»Oh Gott, Harriet«, sagte er, nun in einem anderen, hilflosen Ton, »lass es zwischen uns nicht so weit kommen. Wenn wir nicht zusammenhalten, was dann?«
Zu Ostern kam das Schulmädchen Bridget noch einmal, um zu sehen, ob dieses wundersame Alltagskönigreich möglicherweise noch existierte, und sie fragte: »Was ist los mit ihm? Ist er auch mongoloid?«
»Das nennt man Down-Syndrom«, sagte Harriet. »Niemand sagt heute mehr ›mongoloid‹. Nein, ist er nicht.«
»Was fehlt ihm denn dann?«
»Nicht das Geringste«, sagte Harriet leichthin. »Wie du dich leicht selbst überzeugen kannst.«
Bridget verabschiedete sich bald und kam nie wieder.
Und wieder waren Sommerferien. Es war das Jahr 1975 . Die Schar der Gäste hatte sich gelichtet. Einige schrieben oder erklärten telefonisch, sie könnten sich den Zug oder das Benzin nicht mehr leisten.
»Ausreden!«, bemerkte Dorothy.
»Heute sind die Leute wirklich knapp dran«, sagte David.
»Früher hat sie das nie daran gehindert, die Reise zu bezahlen und dann wochenlang auf eure Kosten zu leben.«
Ben war nun über ein Jahr alt. Er hatte noch kein einziges Wort gesprochen,
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