Das fünfte Kind. Roman
der Hauptstraße ein, packte ihn und hielt das um sich schlagende Kind mit aller Kraft fest. Ben fauchte und spuckte, während er sich wie ein fischartiges Monster in ihren Armen wand. Ein Taxi kam vorbei; Harriet rief es heran, schubste Ben hinein, stieg rasch hinterher und hielt ihn mit eisernem Griff fest, obwohl er ihr mit seiner wütenden Gegenwehr den Arm zu brechen drohte.
Was war da zu machen? Wieder ging Harriet mit Ben zum Arzt, der ihn untersuchte und körperlich für völlig gesund erklärte.
Harriet beschrieb sein Verhalten, und der Doktor hörte zu.
Von Zeit zu Zeit zeigte sich eine kaum beherrschte Ungläubigkeit auf seinem Gesicht, und er hielt den Blick gesenkt, während er mit seinen Bleistiften spielte.
»Fragen Sie David, fragen Sie meine Mutter!«, sagte Harriet.
»Er ist eben ein hyperaktives Kind. So bezeichnet man das, glaube ich, heutzutage«, sagte der altmodische Doktor Brett. Sie ging seit Jahren zu ihm, weil er so altmodisch war.
Endlich überwand er sich, zu ihr aufzusehen. »Was erwarten Sie nun von mir, Harriet? Ihn bis zur Verblödung mit Medikamenten vollzupumpen? Ich bin dagegen.«
Sie schrie innerlich: »Ja, ja, ja, das ist das Einzige, was ich will!« Laut aber sagte sie: »Nein, natürlich nicht.«
»Körperlich ist er für seine achtzehn Monate ganz normal entwickelt. Sehr kräftig und, wie gesagt, sehr aktiv, aber das war er ja von Anfang an. Sie sagten, er spricht noch nicht? Auch das ist nicht ungewöhnlich. Hat Ihre Helen nicht auch ziemlich spät angefangen zu sprechen? Erinnere ich mich richtig?«
»Ja«, sagte Harriet.
Sie brachte Ben nach Hause. Nun wurde er nicht nur jede Nacht in seinem Zimmer eingeschlossen, sondern die Tür wurde von außen fest verrammelt. Keine Minute des Tages blieb er unbewacht. Harriet beobachtete ihn, während ihre Mutter alles andere erledigte.
»Wie sollen wir dir nur danken, Dorothy?«, fragte David. »Mir scheint, die Dinge sind uns so weit entglitten, dass ein Dankeschön nicht mehr genügt.«
»Alles hier geht übers Maß des Erträglichen hinaus. Punkt«, sagte Dorothy.
Harriet wurde immer dünner, abgehetzter, rotäugiger. Wegen der nichtigsten Kleinigkeit brach sie in Tränen aus. Die Kinder gingen ihr aus dem Weg. Aus Takt? Oder hatten sie Angst vor ihr? Dorothy schlug vor, im August eine Woche lang mit Ben allein zu bleiben, während die übrige Familie zusammen irgendwohin verreiste. Weder Harriet noch David hätten normalerweise je eine Reise in Betracht gezogen, sie liebten ihr eigenes Heim. Und was war mit den Gästen, die um diese Zeit kommen würden?
»Bis jetzt hat sich noch keiner angemeldet«, sagte Dorothy.
Sie fuhren mit dem Wagen nach Frankreich. Für Harriet war es das reinste Glück: Sie hatte das Gefühl, man hätte ihr endlich ihre Kinder zurückgegeben, und konnte nicht genug von ihnen bekommen. Den Kindern ging es genauso. Und Paul, ihr Baby, das Ben ihr geraubt hatte, nun bezaubernde drei Jahre alt, ein echter kleiner Charmeur, Paul war wieder ihr Baby. Sie waren noch eine Familie! Und glücklich … Sie konnten kaum glauben, keiner von ihnen, dass Ben ihnen so viel genommen hatte.
Als sie nach Hause kamen, war Dorothy am Rande ihrer Kräfte, hatte blaue Flecken an den Armen und eine Beule an der Schläfe. Sie äußerte sich nicht weiter dazu. Aber als die Kinder am Abend nach ihrer Rückkehr im Bett waren, sagte sie zu Harriet und David: »Ich habe mit euch zu reden. Nein, setzt euch und hört mir zu.«
Sie setzten sich zu ihr an den Küchentisch.
»Ihr beide habt den Tatsachen ins Auge zu blicken. Ben muss in eine Pflegeanstalt.«
»Aber er ist doch normal«, sagte Harriet erbittert, »der Arzt behauptet es jedenfalls.«
»Als das, was er ist, mag er normal sein. Aber nicht als jemand von uns.«
»Was für eine Anstalt würde ihn denn nehmen?«
»Es muss etwas für solche Fälle geben«, sagte Dorothy und begann zu weinen.
Von nun an lagen Harriet und David jede Nacht lange wach, um über einen möglichen Ausweg zu beraten. Sie schliefen auch wieder miteinander, aber es war nicht mehr wie früher. »So müssen sich viele Mädchen vorgekommen sein, bevor es Verhütungsmittel gab«, sagte Harriet. »Jedes Mal haben sie total verängstigt auf ihre Periode gewartet, und wenn sie kam, bedeutete das einen Monat Galgenfrist. Aber sicher hat keine gefürchtet, einen Unhold zur Welt zu bringen.«
Während solcher Gespräche lauschten sie immer mit einem Ohr zur »Baby-Kammer« hinüber, obwohl das
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