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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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aber sonst benahm er sich normaler. Mittlerweile war es schwierig, ihn in seinem Zimmer zu halten. Die Kinder, die im Garten spielten, hörten seine heiseren Wutschreie und sahen ihn auf dem Fensterbrett stehen, wo er versuchte, die Stäbe zur Seite zu drücken.
    So wurde er denn aus seinem kleinen Gefängnis zu den anderen heruntergeholt. Er schien zu wissen, dass er eigentlich wie sie sein sollte. Oft stand er mit gesenktem Kopf da und beobachtete, wie alle redeten und lachten, um den großen Tisch herumsaßen oder sich im Wohnraum unterhielten, während die Kinder herein- und wieder hinausrannten. Seine Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen, und jeder, den er ansah, wurde sich dieses unbehaglich forschenden Blicks bewusst, hörte zu reden auf und kehrte Ben den Rücken oder zumindest die Schulter zu, um ihn nicht sehen zu müssen. Ben konnte eine ganze Gesellschaft durch sein bloßes Dasein zum Schweigen bringen oder auflösen. Unter einem Vorwand verließen die Leute den Raum.
    Gegen Ende der Sommerferien brachte jemand einen Hund mit, einen kleinen Terrier. Ben kam nicht von dem Tier los. Wohin der Hund auch lief, Ben folgte ihm. Er spielte nicht mit ihm, er streichelte ihn nicht; er stand nur da und starrte ihn an. Und eines Morgens, als Harriet als Erste in die Küche kam, um das Frühstück für die Kinder zu machen, lag der Hund tot in seiner Ecke. Herzschlag? Ihr wurde fast schlecht von einem plötzlichen Verdacht, und sie raste die Treppe hinauf, um nachzusehen, ob Ben in seinem Zimmer war. Er saß aufrecht im Bett, und als Harriet hereinkam, sah er ihr entgegen und lachte, aber lautlos und auf seine Weise, eher eine Art Zähnefletschen. Er hatte die Tür geöffnet, sich leise an seinen schlafenden Eltern vorbeigeschlichen, war die Treppe hinuntergegangen, hatte den Hund gefunden, ihn getötet und war ebenso leise wieder in sein Zimmer zurückgekehrt und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Alles vollkommen selbstständig! Harriet schloss Ben ein: Wenn er einen Hund umbringen konnte, warum dann nicht auch ein Kind?
    Als sie wieder in die Küche kam, hatten sich die Kinder bereits um den toten Hund geschart. Und dann kamen die Erwachsenen, und es war nur zu klar, was sie dachten.
    Natürlich schien es unglaublich. Ein kleines Kind sollte einen springlebendigen Hund umgebracht haben! Nach außen hin blieb der Tod des Hundes ein Geheimnis, aber der Tierarzt sagte, er sei erdrosselt worden. Diese Geschichte verdarb allen den Rest der Ferien, und die Gäste verabschiedeten sich früher als sonst.
    »Und sie werden es sich zweimal überlegen, ob sie je wiederkommen«, sagte Dorothy.
    Drei Monate später kam Mr. McGregor, der alte, graue Hauskater, auf dieselbe Art ums Leben. Er hatte immer Angst vor Ben gehabt und sich außer Reichweite gehalten. Ben musste sich unbemerkt herangeschlichen, ihn in die Enge getrieben oder im Schlaf überrascht haben.
    Zu Weihnachten war das Haus halb leer.
    Es war das schlimmste Jahr in Harriets bisherigem Leben gewesen, und es wurde ihr relativ gleichgültig, dass die Leute sie mieden. Jeder neue Tag war wie ein Albtraum. Wenn sie morgens erwachte, konnte sie sich nicht vorstellen, wie sie die vielen Stunden bis zum Abend durchstehen sollte. Ben war immer auf den Beinen und durfte keinen Moment aus den Augen gelassen werden. Er schlief sehr wenig. Den größten Teil der Nacht verbrachte er auf seinem Fensterbrett, von wo aus er in den Garten starrte, und wenn Harriet nach ihm sah, drehte er sich um und musterte sie mit einem langen, fremden, eisigen Blick. Im Halbdunkel der Kammer glich er dann wirklich einem feindselig lauernden Troll oder Gnom. Wenn er tagsüber eingeschlossen wurde, heulte und kreischte er derart, dass es durch das ganze Haus schallte und alle fürchteten, bald würde die Polizei anrücken. Manchmal rannte er plötzlich, ohne dass sie einen Grund dafür entdecken konnte, nach draußen, durch den Garten, zum Tor hinaus und auf die Straße. Einmal musste Harriet ihm fast zwei Kilometer nachjagen, wobei sie die vierschrötige kleine Gestalt über diverse Kreuzungen rennen sah, ohne dass Ben sich um Verkehrsampeln, Autogehupe und Passanten, die ihm Warnungen hinterherschrien, gekümmert hätte. Harriet schluchzte, keuchte hinter ihm her, und wie eine Wahnsinnige versuchte sie verzweifelt, ihn zu erwischen, bevor etwas Schreckliches passierte, doch gleichzeitig betete sie: »Oh, überfahrt ihn doch, ja, doch,
bitte
 …« Sie holte ihn gerade noch vor

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