Das fünfte Kind. Roman
Wort längst abgeschafft war, denn es tat zu weh. Was mochte Ben da treiben, auch wenn sie ihn dessen nicht für fähig hielten? Bog er vielleicht gerade die schweren Eisenstangen auseinander?
»Das Schlimme ist, dass man sich sogar an die Hölle gewöhnt«, sagte Harriet. »Nach einem Tag mit Ben ist mir, als existierte nichts außer ihm. Als hätte es nie etwas anderes gegeben. Ich merke plötzlich, dass ich stundenlang nicht an die anderen gedacht habe. Gestern habe ich vergessen, ihnen das Abendbrot zu machen. Dorothy war im Kino, und als ich nach unten kam, stand Helen am Herd und kochte irgendwas.«
»Was ihnen sicher nicht geschadet hat.«
»Sie ist
acht
.«
Nachdem die Woche in Frankreich Harriet sehr bewusst gemacht hatte, wie ihr Familienleben aussah, war sie fest entschlossen, den Dingen nicht einfach ihren Lauf zu lassen. Sie merkte, dass sie wieder stumm mit Ben redete: »Ich werde nicht dulden, dass du uns alle fertigmachst! Mich zerstörst du nicht …«
Sie versteifte sich darauf, wieder ein richtiges Weihnachtsfest zu feiern, und lud alle Welt schriftlich oder telefonisch ein. Dabei betonte sie jedes Mal, dass Ben sich letzthin »sehr gebessert« habe.
Sarah fragte, ob »keine Bedenken« bestünden, Amy mitzubringen. Das hieß im Klartext, dass sie wie alle von der Sache mit dem Hund und dem Kater gehört hatte.
»Es bestehen keine Bedenken, solange wir Amy niemals mit Ben allein lassen«, sagte Harriet, und nach einer langen Pause sagte Sarah: »Ach Gott, Harriet, uns beiden hat das Schicksal nicht gerade gute Karten zukommen lassen, nicht wahr?«
»Sieht so aus«, sagte Harriet kurz, aber sie lehnte es ab, sich als Opfer des Schicksals zu sehen. Auf Sarah mochte das zutreffen, mit ihren Eheproblemen und ihrem mongoloiden Kind. Ja. Aber sie, Harriet, im selben Boot mit Sarah?
Zu ihren eigenen Kindern sagte sie: »Bitte, passt gut auf Amy auf. Lasst sie nie mit Ben allein.«
»Würde er Amy wehtun wie unserem armen Kater?«, fragte Jane.
»Er hat Mr. McGregor erwürgt«, sagte Luke zornig, »er hat ihn
erwürgt
.«
»Und den armen Hund auch«, sagte Helen. Beide Kinder sahen Harriet anklagend an.
»Ja«, sagte Harriet, »vielleicht. Darum müssen wir alle besonders gut auf sie aufpassen.«
Die Kinder sahen einander an, wie sie es sich mittlerweile angewöhnt hatten, in einem geheimen Einverständnis, von dem Harriet ausgeschlossen war. Dann gingen sie ihrer Wege, ohne sie noch einmal anzublicken.
Weihnachten wurde zwar mit weniger Gästen, aber festlich und geräuschvoll begangen, es war ein Erfolg, und doch sehnte Harriet insgeheim das Ende der Feiertage herbei. Es war so furchtbar anstrengend, Ben und Amy ständig zu beobachten. Amy war der Mittelpunkt von allem. Ihr Kopf war zu groß, ihr Körper zu formlos, aber sie war voller Liebe und Zärtlichkeit, und alle fanden sie reizend. Helen, die es längst aufgegeben hatte, sich um Ben zu bemühen, erkor nun Amy zu ihrem Liebling. Ben sah immer genau zu, schweigend, und Harriet vermochte den Blick dieser kalten gelbgrünen Augen nicht zu enträtseln. Aber das hatte sie ja nie gekonnt! Zuweilen schien es ihr, als verbrächte sie ihr ganzes Leben mit dem Versuch, Bens Gefühle und Gedanken zu ergründen. Amy, die von jedermann nur Liebe erwartete, ging zutraulich auf ihn zu, gluckste und lachte und streckte die Arme nach ihm aus. Sie war doppelt so alt wie er, auch wenn sie nur halb so alt wirkte, diese behinderte Kleine, die stets strahlte, jetzt aber plötzlich verstummte, mit kläglich verzerrtem Gesichtchen vor Ben zurückwich und ihn anstarrte, ganz wie Mr. McGregor, der arme Kater, es wahrscheinlich getan hatte. Später fing sie bei Bens Anblick jedes Mal zu schreien an. Ben ließ kein Auge von ihr, diesem anderen heimgesuchten Wesen, das jeder im Haus verhätschelte. Aber wusste er denn, dass er wie Amy ein gestraftes Wesen war? War er es wirklich?
Was war er?
Weihnachten ging vorüber, und Ben war nun zwei Jahre und ein paar Monate alt. Paul wurde in den Kindergarten weiter unten an der Straße geschickt, wo er außerhalb von Bens Reichweite war. Das von Natur aus lustige und freundliche Kind wurde zunehmend nervös und reizbar. Es bekam Wein- und Wutanfälle, warf sich schreiend auf den Boden oder trommelte mit den Fäusten auf Harriets Knie ein, um ihr ebenso viel Aufmerksamkeit abzutrotzen, wie sie Ben dauernd zuzuwenden schien.
Dorothy fuhr weg, um Sarah und ihre Familie zu besuchen.
Harriet war nun tagsüber mit Ben
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