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Das fuenfte Maedchen

Das fuenfte Maedchen

Titel: Das fuenfte Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Philip
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vor. Wenn ich nach oben blickte, sah ich, dass der Schnee auf den Ästen im Sonnenlicht durchsichtig erschien.
    Die Stille wurde durchbrochen. Ich hörte ein Geräusch, das ich nicht auf Anhieb erkannte. Es war nicht Wasser, sondern eher ein Tröpfeln, ein seltsames Klickgeräusch, als wenn winzige Eisperlen herunterprasselten.
    Da erkannte ich, dass es taute. Das langsame zögerliche Ende des Winters näherte sich. Es war die vorzeitige Rückkehr von Aslan, und wir waren noch nicht bereit für ihn, denn wir hatten alle die lustige, unterhaltsame Gesellschaft der Weißen Hexe genossen. Tief in unserem Inneren hofften wir, dass er nie zurückkehren würde.

Zahlenspiele
    Als das Eis schmolz, fanden sie das fünfte Mädchen im Mühlteich.
    Sie war unter dem Eis, unter dem Schnee begraben, gegen das Gitter gepresst, wo der Bach in den Abflusskanal mündete. Das Wasser war an dieser Stelle tief, und das Ufer neigte sich, und die langsame Strömung hatte sie wie einen kleinen Gegenstand in Bernstein eingefangen.
    Der Mann von der Schnapsbrennerei erkannte sofort, dass da etwas war. Obwohl er eigentlich nur die Wege von der dicken Frostschicht freimachen wollte, ließ er den Besen ins Wasser gleiten, um das Hindernis beiseitezuschieben. Und so wurde sie entdeckt; er beobachtete, wie ihre Hand an die Oberfläche kam. Er sah, wie sie sich bewegte, blass im Vergleich zu dem torfigen Wasser. Als er sich bückte, während er mit einer Hand nach seinem Handy suchte, sah er den Rest von ihr: ein weißer, zartgliedriger Geist, der im Portal auf der Schwelle zur Welt der Lebenden für immer verloren gegangen war.

Dreiundzwanzig
    Nicht für immer verloren natürlich. Nicht wirklich. Sie zogen Jinn heraus, steckten sie in einen Plastiksack und zogen den Reißverschluss zu, und dann packten sie sie auf dem Seziertisch wieder aus. Dort packten sie sie noch weiter aus, aus ihrer Haut, um herauszufinden, was mit ihr passiert war.
    Sie war nicht ertrunken, sagten sie. Sie war tot, bevor sie im Wasser landete. Da waren Male an ihrem Hals. Es war gut möglich, dass sie bewusstlos gewesen war, sagten sie; sie hatte keine Verletzungen, die darauf schließen ließen, dass sie sich gewehrt hatte. Doch bewusstlos hatte ihm nicht gereicht: Er hatte sie erdrosselt, zum Teil mit der Kordel ihres Halsbandes, zum Teil mit den bloßen Händen.
    Ich bekam die Male an ihrem Hals nicht zu sehen, denn das Tuch war so weit hochgezogen. Neben der Augenhöhle war ein Bluterguss, das war alles. Ich versuchte, sie anzusehen und nur Jinx zu sehen, aber vergeblich. Wie sie dort lag, blass und wächsern, ohne zu atmen, war sie einfach nur wieder Jinn. Sie war gut erhalten: Sie hatte in einem zugefrorenen Teich gelegen. Sie sah aus, als würde sie ein wenig lächeln, doch das lag nur an der Form ihres Mundes. Die Lippen hatten immer so ausgesehen, als hätte sie sie zu einem kleinen Lächeln verzogen. Ihr Haar wirkte in dem fahlen Licht blass und leblos, doch wenn ich die Augen zusammenkniff und die Unschärfe wegblinzelte, konnte ich mir wieder ihren ehemaligen Glanz vorstellen und das Molotow-Strandgirl.
    Ich spürte den Schmerz zu diesem Zeitpunkt nur in meinem Kopf. Ich mache keine Witze und sage auch nicht, ich hätte es mir vorgestellt – ich meine es wörtlich. Ich konnte ihn nur in meinem Kopf spüren, er pochte hinter meinen Augen, füllte meine Kehle und meine Nasengänge und meine Nebenhöhlen. Ich spürte ihn zu diesem Zeitpunkt nicht im Bauch oder in der Brust; sie schienen taub zu sein. Ich dachte, mein Kopf könnte explodieren, und wenn ich angenommen hatte, Sprechen sei schwierig, dann hatte ich nur die Hälfte verstanden. Ich konnte körperlich kein Wort hervorbringen, nicht ohne dass mein Schädel in sich selbst zusammenfiel, sodass ich nur zu nicken vermochte.
    Am nächsten Tag kam ein Journalist zu unserem Haus, um zu sehen, ob ich darüber reden wollte. Ich wollte nicht, aber er ließ mich dennoch seine Nummer aufschreiben, »für später«. Dann tauchte eine Pastorin auf. Sie legte mir ungefragt einen Arm um die Schulter und sagte, das Ding auf dem Seziertisch sei nicht wirklich Jinn, ich dürfe so nicht darüber denken, es sei nur eine leere Hülle.
    Ich wollte sie schlagen, konnte mich aber nicht dazu aufraffen. Ich konnte mich nicht einmal dazu aufraffen, mit ihr zu streiten. Es war keine Hülle, es war Jinn. Jinn

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