Das fünfte Paar
habe ich vor langer Zeit gelernt, den Mund zu halten.«
Er zog seine Brieftasche heraus. »Sie heißt Doris.«
Er reichte mir den Schnappschuß herüber, den er Hilda Ozimek gezeigt hatte. Doris hatte ein nettes Gesicht und einen gemütlich runden Körper. Sie stand stocksteif da - feingemacht für den Kirchenbesuch -, und ihre Miene drückte eine Mischung von Schüchternheit und Trotz aus. Ich hatte sie schon hundertmal gesehen - die Welt war voller Frauen wie Doris: Sie waren die süßen jungen Dinger, die auf der Veranda in der Schaukel saßen und von der Liebe träumten, wenn sie in die samtige Nacht starrten, der die Sterne und die Düfte des Sommers einen betörenden Zauber verliehen. In ihren Gesichtern spiegelten sich die Menschen, die ihr Leben bestimmten. Sie gewannen ihre Bedeutung durch die Dienste, die sie leisteten, und überlebten, indem sie ihre Erwartungen Stück für Stück aufgaben. Doch eines Tages erwachten sie - und versuchten für sich zu retten, was noch zu retten war.
»In diesem Juni wären wir dreißig Jahre verheiratet«, sagte Marino, als ich ihm das Foto zurückgab. »Plötzlich war sie nicht mehr glücklich. Beklagte sich, ich arbeite zuviel, sei nie da. Sie kenne mich überhaupt nicht. Ich war wie vor den Kopf geschlagen: Schließlich ist unser Leben schon lange so. Aber dann kam ich drauf, was dahintersteckte.«
»Und was war das?«
»Es fing letzten Sommer an, als ihre Mutter den Schlaganfall hatte. Doris fuhr hin, um sich um sie zu kümmem. Sie blieb fast einen Monat dort. Holte ihre Mutter aus dem Krankenhaus, brachte sie in einem Pflegeheim unter und regelte alles Nötige. Und als sie zurückkam, war sie total verändert - als sei sie nicht mehr dieselbe Frau.«
»Was, glauben Sie, ist passiert?«
»Ich weiß, daß sie da oben einen Kerl kennengelernt hat - einen Witwer. Er ist Immobilienmakler. Half Doris dabei, das Haus ihrer Mutter zu verkaufen. Sie erwähnte ihn ein paarmal - so ganz nebenher.
Aber es ging was vor: Spätabends klingelte das Telefon, und wenn ich dranging, wurde aufgelegt. Doris lief dem Briefträger entgegen, um die Post vor mir zu sehen. Und dann, im November, packte sie Knall auf Fall ihre Sachen und sagte, sie müsse weg - ihre Mutter brauche sie.«
»War sie seitdem wieder einmal hier?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ruft ab und zu an. Sie will die Scheidung.«
»Es tut mir so leid, Marino.«
»Ihre Mutter ist in dem Heim gut versorgt - ich bin sicher, daß sie ihr nur als Vorwand dient. Wenn sie anruft, ist sie genau, wie Hilda Ozimek gesagt hat: Es geht hin und her. Einmal schuldbewußt und dann wieder völlig wurschtig.«
»Das muß sehr schmerzlich für Sie sein.«
Er warf seine Serviette auf den Tisch. »Sie kann tun, was sie will. Zum Teufel mit ihr!«
Ich wußte, daß er es nicht so meinte. Er war verzweifelt, und ich litt mit ihm - gleichzeitig aber konnte ich nicht umhin, auch Mitleid mit seiner Frau zu empfinden: Es war bestimmt nicht einfach, mit Marino zu leben.
»Möchten Sie, daß sie zurückkommt?«
»Ich war länger mit ihr zusammen, als ich auf der Welt war, ehe ich sie kennenlernte. Aber blicken wir der Wahrheit ins Gesicht, Doc.« Er sah mich an, und der Kummer in seinen Augen schnitt mir ins Herz. »Mein Leben ist eine Zumutung. Immer muß man jeden Cent zweimal umdrehen. Mitten in der Nacht werde ich aus dem Bett geholt. Man macht Urlaubspläne, und dann kommt was dazwischen, und Doris packt die Koffer wieder aus und wartet zu Hause auf mich. Wie an dem Labour-Day-Wochenende, als das Harvey-Mädchen und ihr Freund verschwanden. Das brachte das Faß zum Überlauten.«
»Lieben Sie Doris?«
»Sie glaubt nicht, daß ich es tue.«
»Sie sollten ihr zeigen, daß Sie sie lieben, aber Sie sollten nicht so tun, als kämen Sie allein nicht zurecht.«
Er schaute mich verdutzt an. »Ich verstehe nicht.«
Das hatte ich erwartet. »Sorgen Sie für sich selbst«, sagte ich.
»Erwarten Sie nicht von ihr, daß sie das tut. Vielleicht bewirkt schon das allein eine Veränderung.«
»Ich verdiene zuwenig - da liegt der Hund begraben«, meinte er bitter.
»Ich wette, das macht Ihrer Frau die wenigsten Probleme: Sie möchte sich wichtig und geliebt fühlen.«
»Er hat ein großes Haus und einen nagelneuen Straßenkreuzer mit Ledersitzen - dagegen kann ich nur anstinken, wenn Sie mir einen Mietwagen bezahlen.«
Jetzt begriff ich, weshalb er sich für die Fahrt zu Hilda den Thunderbird ausgesucht hatte.
»Voriges Jahr hat er
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