Das fünfte Paar
dann seltener und im Winter gar nicht mehr.
Annas Praxisräume waren Teil ihres Hauses, eines hübschen alten weißen Holzhauses in einer mit dunklen Kopfsteinen gepflasterten Straße, in der nach Einbruch der Dunkelheit Gaslaternen anheimelndes Licht verbreiteten. Ich klingelte, um meine Ankunft zu signalisieren, wie ich es als Patientin getan hatte, und trat dann in die Halle, von der aus man ins Wartezimmer gelangte. Ledersessel standen um einen Couchtisch, auf dem sich Zeitschriften türmten, ein Orientteppich bedeckte den Hartholzboden. Eine Kiste in der Ecke enthielt Spielzeug für die jüngeren Patienten, an dem zierlichen Schreibtisch saß zu den Sprechzeiten eine Empfangssekretärin. Außerdem gab es einen Kaffeeautomaten und einen offenen Kamin.
Am Ende eines langen Flurs lag die Küche, und der Duft, der mir entgegenwehte, erinnerte mich daran, daß ich nicht zu Mittag gegessen hatte.
»Kay - sind Sie es?« Der vertrauten Stimme mit dem starken deutschen Akzent folgten feste Schritte, als Anna mir entgegenkam. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und umarmte mich. »Haben Sie die Tür hinter sich abgesperrt?«
»Habe ich - aber Sie hätten nach Ihrem letzten Patienten absperren sollen!«
»Sie sind mein letzter Patient.«
Ich folgte ihr in die Küche. »Bringen Ihnen alle Patienten Wein mit?«
»Das würde ich nicht erlauben - und ich koche auch nicht für sie. Für Sie breche ich alle Regeln.«
»Ja.« Ich seufzte. »Wie kann ich das je wiedergutmachen?«
»Nicht mit Ihren Diensten, hoffe ich.« Sie nahm mir die Tüte ab und stellte sie auf die Arbeitsfläche.
»Ich verspreche, ich würde sehr behutsam mit Ihnen umgehen.«
»Ich wäre sehr nackt und sehr tot, und es wäre mir völlig gleichgültig, wie Sie mit mir umgingen.« Sie räumte die Tüte aus. »Wollen Sie mich betrunken machen, oder haben Sie ein Sonderangebot erwischt?«
»Ich hatte vergessen, Sie zu fragen, was Sie für uns kochen würden - und deshalb habe ich für alle Fälle Weiß- und Rotwein mitgebracht.«
»Wenn das so ist, dann fragen Sie mich bitte auch in Zukunft nicht, was ich für Sie koche. Meine Güte, Kay.« Sie las die Etiketten. »Das sind ja echte Kostbarkeiten. Möchten Sie jetzt schon ein Glas, oder ziehen Sie etwas Stärkeres vor?«
»Etwas Stärkeres wäre mir offengestanden lieber.«
»Das Übliche?«
»Wunderbar.« Ich schaute sehnsüchtig auf den großen Topf, in dem es verheißungsvoll brodelte. »Ich hoffe, das ist das, wonach es riecht.« Anna war berühmt für ihr Chili.
»Ich kenne doch Ihren Geschmack. Ich habe die Büchse grüne Chilis und Tomaten drangetan, die Sie mir von Ihrem letzten Besuch in Miami mitgebracht haben. Ich hab' sie bis heute aufgespart. Im Ofen ist Sauerteigbrot, und ich habe Krautsalat gemacht. Wie geht's der Familie?«
»Lucy findet plötzlich Interesse an Jungen und Autos, aber solange ihr Computer ihr noch wichtiger ist, sehe ich keinen Grund zur Besorgnis. Meine Schwester hat ein neues Kinderbuch geschrieben - es erscheint nächsten Monat - und noch immer keine Ahnung von dem Kind, das sie eigentlich erziehen sollte. Meine Mutter regt sich nach wie vor darüber auf, was aus Miami geworden ist, wo niemand mehr englisch spricht, aber ansonsten geht es ihr glänzend.«
»Waren Sie Weihnachten dort?«
»Nein.«
»Hat Ihre Mutter Ihnen das verziehen?«
»Noch nicht«, gab ich zu.
»Das kann ich verstehen: Weihnachten ist ein Familienfest.«
Ich schwieg.
»Andererseits sehe ich es positiv«, sagte sie zu meiner Überraschung. »Es war Ihnen nicht danach, nach Miami zu fliegen - also taten Sie es nicht. Ich habe Ihnen ja ständig gepredigt, daß, die Frauen lernen müssen, egoistisch zu sein - vielleicht haben Sie das endlich beherzigt.«
»Ich fürchte, es ist mir nie besonders schwergefallen, egoistisch zu sein, Anna.«
»Wenn Sie es eines Tages ohne Schuldgefühle sein können, werden Sie geheilt sein.«
»Daran muß ich wohl noch eine Weile arbeiten«, meinte ich.
»Den Eindruck habe ich auch.«
Sie entkorkte eine Flasche, um den Wein eine Weile atmen zu lassen. Die Unterarme, die aus den hochgekrempelten Ärmeln ihrer weißen Baumwollbluse herausschauten, waren so fest und kräftig wie die einer jungen Frau. Ich wußte nicht, wie Anna in ihrer Jugend ausgesehen hatte, doch jetzt, mit fast siebzig, war sie mit ihren germanischen Zügen, dem kurzen weißen Haar und den hellblauen Augen eine gute Erscheinung. Sie nahm ein paar Flaschen aus einem
Weitere Kostenlose Bücher