Das fünfte Paar
haben - könnten wir die Förmlichkeiten beiseite lassen und ein Gespräch führen?«
»Natürlich, Kay«, sagte sie sanft. »Ich erinnere mich sehr lebhaft an Jill. Sie war ein ungewöhnliches Mädchen.«
»Ungewöhnlich in welcher Hinsicht?«
»Hochintelligent und außerordentlich liebenswert. Ich freute mich immer auf die nächste Sitzung mit ihr. Wäre sie nicht eine Patientin von mir gewesen, hätte ich mich gern mit ihr angefreundet.«
»Wie lange kam sie zu Ihnen?«
»Für mehr als ein Jahr drei- bis viermal im Monat.«
»Warum zu Ihnen, Anna? Warum ging sie nicht zu einem Arzt in Williamsburg? Dort wohnte sie schließlich.«
»Ich habe eine ganze Reihe Patienten von außerhalb – manche sogar aus Philadelphia.«
»Weil sie nicht wollen, daß jemand erfährt, daß sie in therapeutischer Behandlung sind?«
Sie nickte. »Unglücklicherweise haben noch immer viele Menschen, die einen Therapeuten brauchen, Angst, das zuzugeben. Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, wie viele meiner Klienten durch die Hintertür kommen und gehen.«
Auch ich hatte nie jemandem von meinen "Ausflügen" zu Anna erzählt - und hätte sie sich nicht geweigert, Geld von mir zu nehmen, so hätte ich die Sitzungen bar bezahlt. Es hätte mir grade noch gefehlt, daß jemand in der Beihilfeabteilung sich mit entsprechenden von mir eingereichten Rechnungen befaßt und darüber im Department of Health and Human Services gequatscht hätte.
»Jill wollte also geheimhalten, daß sie zu Ihnen kam. Das wäre eine Erklärung dafür, daß sie die Librax-Rezepte in Richmond einlöste«, überlegte ich laut.
»Bevor Sie anriefen und es mir sagten, wußte ich nicht, daß sie das getan hatte - aber es hat mich nicht überrascht.« Sie griff nach ihrem Weinglas.
Das Chili war so scharf, daß es mir die Tränen in die Augen trieb, doch es schmeckte hervorragend, und das sagte ich Anna auch. Dann eröffnete ich ihr, was sie wahrscheinlich schon vermutete: »Es besteht die Möglichkeit, daß Jill und ihre Freundin Elizabeth Mott von demselben Mann getötet wurden wie die Pärchen. Zumindest gibt es einige Parallelen, die mich beunruhigen.«
»Ich bin nicht daran interessiert, was Sie über die Fälle wissen, mit denen Sie es zu tun haben - es sei denn, Sie halten es für notwendig, mich darüber in Kenntnis zu setzen. Ich denke, es wird am besten sein, Sie stellen mir gezielte Fragen. Ich werde sie beantworten, so gut ich kann.«
»Hatte Jill, abgesehen von dem üblichen, noch einen anderen Grund, ihre therapeutische Behandlung geheimzuhalten? Gab es einen dunklen Punkt in ihrem Leben?«
»Sie stammte aus einer prominenten Familie aus Kentucky, und es war ihr ungemein wichtig, von ihnen geliebt und geschätzt zu werden. Sie ging auf ihrem gesellschaftlichen Status angemessene Schulen, brachte gute Leistungen und wäre sicherlich eine erfolgreiche Anwältin geworden. Niemand wußte etwas.«
»Davon, daß sie in Behandlung war?«
»Das auch«, antwortete Anna. »Aber vor allem davon nicht, daß sie eine lesbische Beziehung hatte.«
»Mit Elizabeth?« Ich kannte die Antwort schon, bevor ich die Frage ausgesprochen hatte: Der Gedanke war mir mehrfach gekommen.
»Ja. Jill und sie freundeten sich im ersten Semester auf der Universität an - und dann wurden sie irgendwann ein Liebespaar. Die Bindung zwischen den beiden war sehr stark, aber mit Konflikten befrachtet. Jill erzählte mir, daß Elizabeth und sie bis dahin "ganz normal" gewesen seien. Sie müssen wissen, daß ich Elizabeth nie kennengelernt habe, also auch ihre Sicht nicht kenne. Jill kam zu mir, weil sie hoffte, durch eine Therapie ihre ursprünglich heterosexuellen Neigungen zurückzugewinnen. Sie wollte nicht lesbisch sein.«
»Sahen Sie eine Hoffnung dafür?«
»Ich weiß nicht, wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hätte«, sagte Anna. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß die Liebe zu ihrer Freundin sehr tief ging. Aus einigen ihrer Äußerungen gewann ich den Eindruck, daß Elizabeth die Beziehung unbeschwerter sah als Jill, die sie vom Intellekt her nicht akzeptieren, vom Gefühl her aber nicht aufgeben konnte.«
»Das muß eine Qual für sie gewesen sein.«
»Je näher das Studienende rückte, um so mehr spitzte sich die Situation zu: Jill mußte Entscheidungen über ihre Zukunft treffen und begann, psychosomatisch zu reagieren - mit einer spastischen Colitis. Deshalb verschrieb ich ihr Librax.«
»Hat sie jemals etwas erwähnt, das einen Hinweis auf ihren Mörder
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