Das fünfte Zeichen
in Kampen unweit des Ensjøvei. Harry hatte erklärt, das Gebäude unmittelbar unter der Spitze sei 1912 als Tuberkuloseheim errichtet, später jedoch zu einem Wohnheim umgebaut worden. Erst für Hauswirtschaft s schülerinnen, dann für Krankenschwestern und schließlich ganz generell für Studenten. Die letzte Spitze des Drudenfußes deutete auf ein Muster aus schwarzen, parallelen Strichen.
» Die Schienentrasse vor dem Hauptbahnhof? «, fragte Møller. » Da wohnt doch gar keiner. «
» Schau mal genau hin «, sagte Harry und deutete auf ein kle i nes eingezeichnetes Viereck.
» Das wird irgendein Lagerhaus sein, das … «
» Nein, stimmt «, sagte Waaler. » Es gibt da tatsächlich ein Haus. Ist euch das noch nicht aufgefallen, wenn ihr mit dem Zug in den Bahnhof einfahrt? Die seltsame Villa, die da so ganz für sich liegt? Mit Garten und allem drum und dran? «
» Du meinst die Villa Valle «, sagte Aune. » Die Stationsvorst e herwohnung. Die ist doch bekannt. Ich dachte, da wären jetzt Büros. «
Harry schüttelte den Kopf und erklärte, dass dort laut Einwo h nermeldeamt nur eine Privatperson gemeldet sei, Olaug Sivert sen, eine alte Frau.
» Es gibt aber weder in dem Wohnheim noch in der Villa eine fünfte Etage «, sagte Harry.
» Wird ihn das stoppen? «, fragte Waaler an Aune gerichtet.
Aune zuckte mit den Schultern. » Ich glaube nicht. Aber jetzt reden wir davon, das Verhalten eines Individuums vorherzus a gen, und da sind eure Vermutungen ebenso gut wie meine. «
» Gut «, sagte Waaler. » Wir gehen also davon aus, dass er plant, morgen im Wohnheim zuzuschlagen. Unsere beste Chance besteht in einer konzertierten Aktion. Nicht wahr? «
Ein Nicken wanderte um den Tisch.
» Gut «, sagte Waaler. » Ich kontaktiere Sivert Falkeid von der Bereitschaft und fange sofort an, die Details auszuarbeiten. «
Harry sah das Funkeln in Tom Waalers Augen. Er verstand ihn. Aktion. Zugriff. Festnahme. Das Filetstück der Polizeia r beit.
» Dann fahre ich mit Beate in die Schweigaards Gate. Mal sehen, ob wir die Bewohnerin antreffen «, sagte Harry.
» Seid vorsichtig «, sagte Møller laut, um das Scharren de r S tühle zu übertönen. » Es darf nichts an die Öffentlichkeit gelan gen. Denkt an das, was Aune gesagt hat. Diese Kerle bewegen sich oft im Umfeld der Ermittlungen. « Die Sonne sank. Die Temperaturen stiegen.
KAPITEL 24
Freitag. Otto Tangen
O tto Tangen wälzte sich auf die Seite. Er war nach einer weiteren Tropennacht schweißgebadet, doch das war es nicht, was ihn geweckt hatte. Er reckte sich nach dem Telefon, und das kaputte Bett knirschte gefährlich. Es war vor einem Jahr aus den Fugen gegangen, als er Aud Rita aus der Bäckerei quer durchs Bett gevögelt hatte. Zwar war Aud Rita nur ein Hauch von einem Mädchen, doch Otto hatte in jenem Frühjahr die Einhu n dertundzehnermarke durchbrochen. Es war stockdunkel im Zim mer gewesen, als ihnen ein Krachen verriet, dass das Bett für Längsbewegungen konstruiert war und nicht für solche, die im rechten Winkel dazu verliefen. Aud Rita hatte unten gelegen, und Otto hatte sie mit einem Schlüsselbeinbruch nach Hønefoss in die Ambulanz fahren müssen. Außer sich vor Wut hatte Aud Rita damit gedroht, Nils alles zu beichten, ihrem Lebensgefäh r ten und Ottos engstem und soweit einzigem Freund. Nils brachte zum damaligen Zeitpunkt einhundertundfünfzehn Kilo auf die Waage, und er war bekannt für sein hitziges Temperament. Otto war vor Lachen fast geplatzt. Seither knurrte ihn Aud Rita nur mürrisch an, wenn er in die Bäckerei kam. Das machte ihn traurig, denn Otto behielt diese Nacht trotz allem in liebevoller Erinnerung: Es war das letzte Mal gewesen, dass er Sex gehabt hatte.
» Harry Lyd «, schnaufte er in den Hörer.
Otto hatte seine Firma nach der Figur in dem Gene Hackman-Fiim benannt, der seine Karriere und seinen Lebenslauf in vielerlei Hinsicht geprägt hatte: Der Dialog, ein Cop pola-Film aus dem Jahre 1974 über einen Abhörexperten. Niemand in Ottos begrenztem Bekanntenkreis kannte diesen Film. Er selbst hatte ihn achtunddreißig Mal gesehen. Nachdem er verstanden hatte, welchen Einblick in das Leben anderer Menschen ihm Technik bieten konnte, hatte er als Fünfzehnjähriger sein erstes Mikrofon gekauft und seinen Vater und seine Mutter im Schlafzimmer abgehört. Tags darauf hatte er begonnen, für seine erste Kamera zu sparen. Jetzt war er fünfunddreißig Jahre alt und hatte Hunderte von Mikrofonen, vierundzwanzig
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